Dokumentation PID, PND, Forschung an Embryonen - 3., erweiterte ...
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Heft 5, 1. Februar 2002<br />
Das Denken des modernen Menschen<br />
ist geprägt von den Abläufen<br />
der Technik.In der Rationalität der<br />
Technik ist das Verhältnis von Mittel und<br />
Ziel für alle klar. Gut ist ein technisches<br />
Mittel, wenn es effizient ist. Gut ist eine<br />
Druckmaschine, wenn sie schnell und<br />
kostengünstig Papier bedruckt, und besser<br />
ist ihr Nachfolgemodell, wenn es diese<br />
Effizienz zu erhöhen vermag. Kein<br />
technisches Mittel hat einen Wert in sich,<br />
sondern es definiert sich allein über seine<br />
funktionale Brauchbarkeit.<br />
Die Allgegenwart technischer und<br />
wirtschaftlicher Rationalität der Gegenwart<br />
stellt eine Herausforderung für<br />
das philosophische Nachdenken über<br />
menschliches H<strong>an</strong>deln dar, das Ethik<br />
gen<strong>an</strong>nt wird. Auch menschliches H<strong>an</strong>deln<br />
kennt Ziele ebenso wie Mittel zum<br />
Ziel. Die Frage drängt sich auf: Ist es<br />
nicht auch in der Ethik so, dass mit der<br />
Festlegung eines Zieles die Auswahl der<br />
Mittel nur noch eine Frage der Zweckmäßigkeit<br />
darstellt? Wenn ein Ziel gut<br />
ist – k<strong>an</strong>n es d<strong>an</strong>n überhaupt noch ein<br />
<strong>an</strong>deres Kriterium für das Gutsein der<br />
Mittel geben als die Effizienz?<br />
Das umfassende Gut-Sein<br />
Um die Bedeutung der Thematik zu begreifen,<br />
empfiehlt es sich, einen Blick auf<br />
den berühmtesten Justizmord der Geschichte<br />
zu werfen, der im Jahr 399 v. Chr.<br />
stattf<strong>an</strong>d. Sein prominentes Opfer: der<br />
griechische Philosoph Sokrates. Der tragische<br />
Urteilsspruch gegen ihn beruhte<br />
auf vielerlei Gründen, zu denen das allgemeine<br />
Klima welt<strong>an</strong>schaulicher Unsicherheit<br />
und eine gewisse Unbeholfenheit<br />
der attischen Gesetze gehörten. Orientierungslos<br />
war Athen nach der Niederlage<br />
im Peloponnesischen Krieg vor<br />
134<br />
D O K U M E N T A T I O N<br />
Stammzellforschung<br />
Das Argument des Sokrates<br />
oder: Die Frage nach dem therapeutischen Gebrauch menschlicher embryonaler Stammzellen<br />
* Dr. med. Dr. theol. Alfred Sonnenfeld ist Lehrbeauftragter<br />
für Bioethik und Mitglied der Ethikkommission <strong>an</strong> der<br />
Charité, Humboldt-Universität, zu Berlin.<br />
Alfred Sonnenfeld*<br />
allem dadurch geworden, dass seine öffentliche<br />
Moral zu einer gesellschaftlichen<br />
Konvention degeneriert war. Einen<br />
sichtbaren Beleg dafür bot die überragende<br />
Stelle der Sophisten, die Rhetorik und<br />
M<strong>an</strong>ipulation <strong>an</strong> die Stelle objektiver<br />
Wahrheit gesetzt hatten.Durch sein kompromissloses,ja<br />
herausforderndes Verhalten<br />
gegen deren These von der bloßen<br />
Konventionalität der Moral galt Sokrates<br />
als unerhörter Provokateur. Sokrates<br />
wagte es, die scheinbar gesellschaftlich<br />
allgemein akzeptierte und gut legitimierte<br />
Polis-Sittlichkeit der Athener freimütig<br />
im Namen allgemeingültiger Wahrheiten<br />
und Werte infrage zu stellen.Dies brachte<br />
ihm den Tod ein.<br />
Früh hat m<strong>an</strong> erk<strong>an</strong>nt,<br />
dass der Tod des<br />
Sokrates mehr ist als<br />
einer der vielen bedauerlichen<br />
Justizirrtümer<br />
der Geschichte. Er ist<br />
ein bis heute gültiges<br />
Paradigma für eine<br />
Grundentscheidung in der Beurteilung<br />
sittlichen H<strong>an</strong>delns.Platon hat dies in seinem<br />
Dialog „Kriton“ zum Ausdruck zu<br />
bringen versucht. Dieser Dialog zwischen<br />
dem gleichnamigen Freund des Sokrates<br />
und dem Meister spielt in dessen<br />
Gefängniszelle, morgens vor Sonnenaufg<strong>an</strong>g,<br />
zwei Tage vor der Hinrichtung. Im<br />
letzten möglichen Augenblick sucht Kriton<br />
seinen Freund auf, um ihn zur Flucht<br />
ins Ausl<strong>an</strong>d zu überreden; alles Notwendige<br />
dafür hat er schon in die Wege geleitet.<br />
Doch Sokrates lehnt ab.<br />
In den unterschiedlichen Argumentationen<br />
des Kriton und des Sokrates <strong>an</strong>gesichts<br />
des Problems „Fliehen oder<br />
bleiben?“ begegnen uns zwei grundsätzliche,<br />
konträre Sichtweisen für die Beurteilung<br />
menschlichen Verhaltens. Kriton<br />
argumentiert g<strong>an</strong>z vom übergeordneten<br />
(guten) Zweck her, der die Flucht als<br />
Kein übergeordneter<br />
guter Zweck k<strong>an</strong>n<br />
zur Legitimation eines<br />
Verhaltens dienen,<br />
das in sich betrachtet<br />
schlecht und ungerecht ist.<br />
Mittel zu solchem Zweck rechtfertigen<br />
soll. M<strong>an</strong> würde heute sagen: Kriton argumentiert<br />
„teleologisch“ oder „ver<strong>an</strong>twortungsethisch“.<br />
Auf einen <strong>an</strong>deren<br />
St<strong>an</strong>dpunkt stellt sich Sokrates. Für ihn<br />
zählt nur die Frage, ob die H<strong>an</strong>dlung<br />
selbst, die zur Debatte steht, also die<br />
Flucht, als solche gerecht ist. Für ihn gilt<br />
das unumstößliche Axiom: M<strong>an</strong> darf auf<br />
keine Weise Unrecht tun. Kein übergeordneter<br />
guter Zweck k<strong>an</strong>n zur Legitimation<br />
eines Verhaltens dienen, das in<br />
sich betrachtet schlecht und ungerecht<br />
ist. Denn, so gibt der Philosoph seinem<br />
Freund Kriton zu bedenken: „M<strong>an</strong> soll<br />
nicht einfach dem Leben den größten<br />
Wert beimessen, sondern dem Recht-<br />
Leben“ 1 . Darum entscheidet sich Sokra-<br />
tes dafür, den Gesetzen<br />
nicht zu entfliehen<br />
und lieber den<br />
Tod zu erleiden, als<br />
ein Unrecht zu tun.<br />
Sokrates ist zutiefst<br />
davon überzeugt, dass<br />
es in einer Entscheidungssituation<br />
für den<br />
H<strong>an</strong>delnden allemal besser ist, „Unrecht<br />
zu leiden, als Unrecht zu tun“. Nicht ein<br />
Pragmatismus, der alles in Kauf nimmt,<br />
um seine Ziele und Interessen durchzusetzen,<br />
ist das höchste Gut für den Menschen,<br />
sondern das umfassendere Gut-<br />
Sein der Seele. Die moralische Integrität<br />
einer menschlichen H<strong>an</strong>dlung wird also<br />
durch das Erleiden eines Unrechts nicht<br />
beeinträchtigt, wohl aber durch jedes<br />
Unrechttun – auch wenn es scheinbar nur<br />
den Bereich der Mittel betrifft. Das Unrechttun<br />
ist nicht nur deshalb schlecht,<br />
wenn der H<strong>an</strong>delnde sich dadurch <strong>an</strong> einer<br />
<strong>an</strong>deren Person vergeht, sondern es<br />
ist abzulehnen, weil der H<strong>an</strong>delnde sich<br />
selbst, sofern er ein zur Sittlichkeit befähigtes<br />
Wesen ist, damit schädigt. Diese<br />
Sittlichkeit orientiert sich <strong>an</strong> H<strong>an</strong>dlungs-<br />
1 Platon, Kriton, 47 d–48 b (Stuttgart 1998), S. 46.