08.12.2012 Aufrufe

Dokumentation PID, PND, Forschung an Embryonen - 3., erweiterte ...

Dokumentation PID, PND, Forschung an Embryonen - 3., erweiterte ...

Dokumentation PID, PND, Forschung an Embryonen - 3., erweiterte ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />

Erinnerungen sind keine Geschichtsquellen,<br />

auch wenn sich die so gen<strong>an</strong>nte<br />

oral history auf das Gedächtnis<br />

und die Aussagen von Zeitgenossen<br />

stützt. Das Problem der Quellenkritik<br />

aber, das Basisproblem historisch<br />

arbeitender Disziplinen, stellt sich<br />

bei dieser Art von Geschichtsschreibung<br />

besonders dringlich und kompliziert.<br />

Die individuelle Erinnerung, von<br />

der Horst Bienek meinte, sie laufe im<br />

Bewusstsein wie ein falsch belichteter<br />

Film ab, bei dem nur ab und zu ein Bild<br />

scharf gestellt ist, überliefert <strong>an</strong>dere Ereignisse<br />

als das kollektive oder gar das<br />

kulturelle Gedächtnis.<br />

Nach spätestens 80 Jahren verblasst<br />

die Erinnerung, mischen sich Gelesenes<br />

und Erlebtes ununterscheidbar. Nach<br />

40 Jahren schon bedarf die Erinnerung<br />

der Mitlebenden der kulturellen Stütze,<br />

der schriftlichen Aufzeichnung, des<br />

Denkmals, des Museums oder gar des<br />

Gedenktages, des Sonntags in der<br />

gleichförmigen Reihe aller Tage. So haben<br />

Jahreszahlen (und damit Jubiläen)<br />

eine eigene Magie, der m<strong>an</strong> sich nur<br />

schwer zu entziehen vermag.<br />

Für mich war das Jahr 1952 ein wegweisendes<br />

Jahr in meinem Leben, weil<br />

ich damals, mit 17 Jahren, erstmals meiner<br />

Frau begegnet bin. Das mag für einen<br />

umgrenzten Kreis von Menschen<br />

durchaus bedeutsam geworden sein, für<br />

unsere Kinder, vielleicht auch für unsere<br />

Enkelkinder. Für die Gesellschaft, in<br />

der wir leben, ist dies ein nebensächliches<br />

Datum. Für Staat und Gesellschaft,<br />

ja für den europäischen Kontinent<br />

und den europäischen Kulturkreis,<br />

war es sicher bedeutsamer, dass in diesem<br />

Jahr 1952 die Hilfslieferungen des<br />

Marshall-Pl<strong>an</strong>es endeten, dass Europa<br />

beg<strong>an</strong>n, wieder auf eigenen Füßen zu<br />

stehen, dass die Pläne zu einer europäi-<br />

D O K U M E N T A T I O N<br />

Heft 19, 10. Mai 2002<br />

Grenzfragen zwischen Wissenschaft und Ethik<br />

Die Bedrohung der<br />

Gattung „Mensch“<br />

Dem „Imperativ des Fortschritts“ in Naturwissenschaft und<br />

Technik begegnet der Imperativ der moralischen Vernunft.<br />

schen Agrar-Union zwar stagnierten,<br />

das Gesetz über die Mont<strong>an</strong>-Union<br />

aber vom Deutschen Bundestag verabschiedet<br />

wurde. Die Verfassungsklage<br />

der damaligen parlamentarischen Opposition<br />

gegen die EVG wurde abgewiesen.<br />

Auch wenn die Europäische<br />

Verteidigungsgemeinschaft d<strong>an</strong>n am<br />

Widerst<strong>an</strong>d des fr<strong>an</strong>zösischen Parlaments<br />

scheiterte – Europa machte sich<br />

doch auf den schweren und l<strong>an</strong>gsamen<br />

Weg seiner Einigung.<br />

1952 war das Jahr, in dem Christi<strong>an</strong><br />

Dior die „fließende Linie“ mit der<br />

„w<strong>an</strong>dernden Taille“ in einer eleg<strong>an</strong>ten<br />

und dem Auge (zumindest dem Männer-Auge)<br />

schmeichelnden Damenmode<br />

kreierte. Wichtiger für die allgemeine<br />

Geschichte aber war wohl das Faktum,<br />

dass sich damals eine das Aussehen<br />

von Frauen und Männern gleichermaßen<br />

verändernde, amerik<strong>an</strong>ische<br />

Mode in Europa fast seuchenartig ausbreitete:<br />

die aus blauem Baumwollstoff<br />

gefertigten Hosen, mit aufgenieteten<br />

Taschen, nach der Genueser Herkunft<br />

des Stoffes gen<strong>an</strong>nt Blue Je<strong>an</strong>s. Ihre rasche<br />

Ausbreitung verweist nicht nur auf<br />

eine Mode, sondern auf eine Zeitstimmung,<br />

auf die verbreitete Mentalität<br />

junger Menschen, die (ähnlich wie das<br />

Werther-Fieber im 18. Jahrhundert) aus<br />

dem Gefühl der Einsamkeit und der<br />

Verlorenheit, aber auch aus Zukunftshoffnung,<br />

stiller Rebellion, aus Sehnsucht<br />

nach Jugendsolidarität und<br />

Selbstironie gespeist wurde. Das Kult-<br />

Dieser Aufsatz ist die leicht gekürzte und bearbeitete Fassung<br />

eines Vortrages, den Prof. Dr. phil. Wolfg<strong>an</strong>g Frühwald<br />

<strong>an</strong>lässlich des Festaktes zum 50-jährigen Bestehen<br />

des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer<br />

am 8. März in Berlin gehalten hat (dazu DÄ, Heft 11/<br />

2002). Frühwald ist der Präsident der Alex<strong>an</strong>der von<br />

Humboldt-Stiftung und war von 1992 bis 1997 Präsident<br />

der Deutschen <strong>Forschung</strong>sgemeinschaft.<br />

buch der Je<strong>an</strong>s-Literatur, Jerome David<br />

Salingers Rom<strong>an</strong> „The Catcher in the<br />

Rye“ (Der Fänger im Roggen), erschien<br />

in den USA 1951, in deutscher<br />

Übersetzung zuerst 1954.<br />

Damals, mitten im Kalten Krieg,<br />

gehörte ein existenziell, aber auch ein<br />

sozial gedachtes Christentum zur Basis<br />

der <strong>an</strong>tibolschewistischen Stimmung<br />

des Westens. Fr<strong>an</strong>çois Mauriac, der<br />

Dichter verzweifelter Einsamkeit des<br />

Menschen, seiner Verfallenheit <strong>an</strong> das<br />

Böse und seiner Erlösung aus Gnade,<br />

erhielt in diesem Jahr den Nobelpreis<br />

für Literatur; Rom<strong>an</strong>o Guardini, der in<br />

München eine spezielle Spielart der<br />

Existenzphilosophie lehrende Religionsphilosoph,<br />

wurde mit dem Friedenspreis<br />

des Deutschen Buchh<strong>an</strong>dels ausgezeichnet.<br />

Albert Schweitzer war der<br />

Friedens-Nobelpreisträger dieses Jahres.<br />

Das Preisgeld hat er in sein Urwald-<br />

Hospital in Lambarene investiert.<br />

Thomas M<strong>an</strong>n ist 1952 aus den unter<br />

der Kommunistenjagd McCarthys sich<br />

verdüsternden USA nach Europa<br />

zurückgekehrt. Er hat zu Beginn des<br />

Folgejahres die Erzählung „Die Betrogene“<br />

geschrieben, in der eine deutsche<br />

Baronin im Klimakterium unter der<br />

Berührung durch die Liebe zu einem<br />

jungen Amerik<strong>an</strong>er wieder fruchtbar zu<br />

werden meint. Rosalie von Tümmler,<br />

die im Zeitpunkt der erzählten H<strong>an</strong>dlung<br />

der Novelle etwa so alt ist wie das<br />

Jahrhundert im Jahr der Publikation<br />

dieses Textes (also 53 Jahre alt), muss<br />

schließlich erkennen, dass ihre Blutungen<br />

Symptome eines Unterleibs-Karzinoms<br />

sind.Thomas M<strong>an</strong>n hat seiner Rosalie<br />

von Tümmler nicht zufällig die Züge<br />

der deutschen Schriftstellerin Gertrud<br />

von Le Fort (1876–1971) gegeben,<br />

das alternde Europa, das sich der Liebe<br />

zu dem jugendfrischen Amerika hin-<br />

145

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!