18.04.2013 Aufrufe

Deutscher Bundestag Entwurf des Gesamtberichts

Deutscher Bundestag Entwurf des Gesamtberichts

Deutscher Bundestag Entwurf des Gesamtberichts

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

7888<br />

7889<br />

7890<br />

7891<br />

7892<br />

7893<br />

7894<br />

7895<br />

7896<br />

7897<br />

7898<br />

7899<br />

7900<br />

7901<br />

7902<br />

7903<br />

7904<br />

7905<br />

7906<br />

7907<br />

7908<br />

7909<br />

7910<br />

7911<br />

7912<br />

7913<br />

7914<br />

7915<br />

7916<br />

7917<br />

7918<br />

7919<br />

7920<br />

7921<br />

7922<br />

7923<br />

7924<br />

7925<br />

7926<br />

7927<br />

7928<br />

7929<br />

7930<br />

7931<br />

7932<br />

7933<br />

Enquete Gesamtbericht Stand 8.4.2013: Teil B: Projektgruppe 1<br />

Der Export <strong>des</strong> westlichen Modernisierungsmodells endete nicht mit der Dekolonisierung. Die<br />

Entwicklungstheorie postulierte unterschiedliche Stufen ökonomischer Entwicklung als Masterplan der<br />

Industrialisierung, 552 zuletzt im so genannten Washington Konsens als Blaupause für eine Wirtschafts- und<br />

Finanzpolitik im Interesse der großen Banken. Aber auch das staatssozialistische Pendant zur bürgerlichen<br />

Fortschrittsideologie betrieb Zwangsmodernisierungen auf der antizipierten imaginierten Entwicklungslinie,<br />

seien es die Methoden der Zwangsindustrialisierung in der Sowjetunion oder die Auswüchse der<br />

Kulturrevolution in China. Immer sollten die Opfer in historischer Gesamtschau gerechtfertigt werden, weil am<br />

Ende der Geschichte das Heilsversprechen alles menschliche Leiden aufheben würde. Der ökonomische<br />

Sündenfall, die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, mit der die strukturelle Gewalt ökonomischer<br />

Abhängigkeiten in die Welt gekommen war, 553 konnte nur historisch, unter Führung einer aufgeklärten Elite (der<br />

kommunistischen Partei), überwunden werden, sofern die materiellen Bedingungen vorlagen.<br />

In Deutschland entstand im 19. Jahrhundert durch den Historismus eine Gegenbewegung zu der Ideologie eines<br />

universalgeschichtlich wirksamen Fortschritts. Im Diktum Leopold Rankes, alle Epochen seien unmittelbar zu<br />

Gott, spiegelte sich auch eine Skepsis gegenüber dem Universalismus eines aufklärerischen Denkens, der die<br />

unterschiedlichen kulturellen Horizonte der Identitätsbildung außer Acht ließ. In der Tradition von Rousseau<br />

konnte die Frage gestellt werden, ob sich der Mensch durch die immer stärkere Entfernung der Natur durch den<br />

Versuch ihrer Beherrschung nicht von seinem eigenen Wesen entferne.<br />

In den fortschrittskritischen Affekten spielten Ressentiments gegen die Stadt, gegen die Auflösung der<br />

überkommenen Ordnung, gegen die Lockerung der Sitten und Traditionen eine gewichtige Rolle, aber auch das<br />

Unbehagen angesichts einer sozialen Frage, die sich nicht mehr durch bloße Caritas oder Philanthropie lösbar<br />

schien. Auch die Entwicklung der Soziallehre der katholischen Kirche mit ihrem Gründungsdokument De Rerum<br />

Novarum 1891 ist in diesem Zusammenhang zu sehen, obwohl die Enzyklika alles andere als eine konservative<br />

Ausrichtung prägt. Dennoch lagen schon Ende <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts all jene Versatzstücke der Technik- und<br />

Fortschrittskritik vor, derer sich auch die Alternativbewegungen ab den 70er Jahren <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts<br />

zunehmend bedienten. 554<br />

Zeitweise war mit dem technischen Fortschritt (der sich allerdings häufig in militärischer Technik niederschlug)<br />

die Hoffnung verbunden, dass er dem friedlichen Austausch der Staaten untereinander und damit der<br />

allgemeinen Befriedung der internationalen Beziehungen diente. Die Urkatastrophe <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs hat<br />

diesen Hoffnungen eine deutliche Abfuhr erteilt. Mit dem Zivilisationsbruch <strong>des</strong> Holocaust im Zweiten<br />

Weltkrieg wurden zentrale Annahmen der Moderne und der Fortschrittsideologie fragwürdig. In der Kritik an<br />

der positivistisch halbierten Vernunft trafen sich bei allen Unterschieden auch die Zeitkritik der Frankfurter<br />

Schule mit konservativen Denkströmungen. 555<br />

Der geschichtsphilosophische Optimismus, auch durch die Katastrophen hindurch noch einen Fortschritt<br />

erkennen zu können, wurde durch das wirkmächtige Gegenbild <strong>des</strong> Angelus Novus auf den Begriff gebracht. So<br />

beschrieb Walter Benjamin das Bild von Paul Klee, auf dem ein Engel rückwärts mit Blick auf die<br />

Vergangenheit aus dem Paradies geblasen wird. Auf seinem Weg durch die Geschichte bekommt er nur die<br />

Folgen zu sehen, was sich als Fortschritt geriert: Die Anhäufung von Katastrophen und von Trümmer auf<br />

Trümmer. Und der Sturm ist das, was wir Fortschritt nennen. 556<br />

Das 20. Jahrhundert ist gegenüber den großen Narrativen skeptisch geworden, weil ein Grundwiderspruch<br />

erkennbar wurde. Der bürgerliche Staat zog seine Legitimation aus dem Versprechen, umfassende Sicherheit zu<br />

garantieren: Leben und Freiheit der Einzelnen zu schützen und auch die materielle Besserung der<br />

Lebensumstände herbeizuführen durch die Entfesselung der innovativen Kräfte.<br />

Am Ende <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts stand die Erkenntnis, dass dieser Prozess auch die Sicherheit der Menschen<br />

umfassend gefährden kann. Mehr noch: Die Entwicklung der Technik, häufig auch aus der Notwendigkeit<br />

entstanden, Risiken zu minimieren, schuf neue und größere Risiken, auf die wiederum technische Antworten<br />

gesucht wurden. Das wiederum korrespondiert mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Entwicklung der<br />

552 Vgl. Rostow, Walt W. (1960). The Stages of Economic Growth.<br />

553 Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich (1867, 1968). Das Kapital: 741f.<br />

554 Die Enzyklika Rerum Novarum gilt als die Mutter aller Sozialenzykliken. Papst Leo XIII ging damit als<br />

Arbeiterpapst in die Geschichte ein.<br />

555 Vgl. dazu paradigmatisch Adorno, Theodor; Horkheimer, Max (1944, 1947, 1969). Dialektik der Aufklärung;<br />

vgl. ebenso Freyer, Hans (1955). Theorie <strong>des</strong> gegenwärtigen Zeitalters.<br />

556 Vgl. Benjamin, Walter (1974, 1991). Über den Begriff der Geschichte: 697 f.<br />

226

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!