Deutscher Bundestag Entwurf des Gesamtberichts
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Enquete Gesamtbericht Stand 8.4.2013: Teil B: Projektgruppe 1<br />
Der Export <strong>des</strong> westlichen Modernisierungsmodells endete nicht mit der Dekolonisierung. Die<br />
Entwicklungstheorie postulierte unterschiedliche Stufen ökonomischer Entwicklung als Masterplan der<br />
Industrialisierung, 552 zuletzt im so genannten Washington Konsens als Blaupause für eine Wirtschafts- und<br />
Finanzpolitik im Interesse der großen Banken. Aber auch das staatssozialistische Pendant zur bürgerlichen<br />
Fortschrittsideologie betrieb Zwangsmodernisierungen auf der antizipierten imaginierten Entwicklungslinie,<br />
seien es die Methoden der Zwangsindustrialisierung in der Sowjetunion oder die Auswüchse der<br />
Kulturrevolution in China. Immer sollten die Opfer in historischer Gesamtschau gerechtfertigt werden, weil am<br />
Ende der Geschichte das Heilsversprechen alles menschliche Leiden aufheben würde. Der ökonomische<br />
Sündenfall, die sogenannte ursprüngliche Akkumulation, mit der die strukturelle Gewalt ökonomischer<br />
Abhängigkeiten in die Welt gekommen war, 553 konnte nur historisch, unter Führung einer aufgeklärten Elite (der<br />
kommunistischen Partei), überwunden werden, sofern die materiellen Bedingungen vorlagen.<br />
In Deutschland entstand im 19. Jahrhundert durch den Historismus eine Gegenbewegung zu der Ideologie eines<br />
universalgeschichtlich wirksamen Fortschritts. Im Diktum Leopold Rankes, alle Epochen seien unmittelbar zu<br />
Gott, spiegelte sich auch eine Skepsis gegenüber dem Universalismus eines aufklärerischen Denkens, der die<br />
unterschiedlichen kulturellen Horizonte der Identitätsbildung außer Acht ließ. In der Tradition von Rousseau<br />
konnte die Frage gestellt werden, ob sich der Mensch durch die immer stärkere Entfernung der Natur durch den<br />
Versuch ihrer Beherrschung nicht von seinem eigenen Wesen entferne.<br />
In den fortschrittskritischen Affekten spielten Ressentiments gegen die Stadt, gegen die Auflösung der<br />
überkommenen Ordnung, gegen die Lockerung der Sitten und Traditionen eine gewichtige Rolle, aber auch das<br />
Unbehagen angesichts einer sozialen Frage, die sich nicht mehr durch bloße Caritas oder Philanthropie lösbar<br />
schien. Auch die Entwicklung der Soziallehre der katholischen Kirche mit ihrem Gründungsdokument De Rerum<br />
Novarum 1891 ist in diesem Zusammenhang zu sehen, obwohl die Enzyklika alles andere als eine konservative<br />
Ausrichtung prägt. Dennoch lagen schon Ende <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts all jene Versatzstücke der Technik- und<br />
Fortschrittskritik vor, derer sich auch die Alternativbewegungen ab den 70er Jahren <strong>des</strong> letzten Jahrhunderts<br />
zunehmend bedienten. 554<br />
Zeitweise war mit dem technischen Fortschritt (der sich allerdings häufig in militärischer Technik niederschlug)<br />
die Hoffnung verbunden, dass er dem friedlichen Austausch der Staaten untereinander und damit der<br />
allgemeinen Befriedung der internationalen Beziehungen diente. Die Urkatastrophe <strong>des</strong> Ersten Weltkriegs hat<br />
diesen Hoffnungen eine deutliche Abfuhr erteilt. Mit dem Zivilisationsbruch <strong>des</strong> Holocaust im Zweiten<br />
Weltkrieg wurden zentrale Annahmen der Moderne und der Fortschrittsideologie fragwürdig. In der Kritik an<br />
der positivistisch halbierten Vernunft trafen sich bei allen Unterschieden auch die Zeitkritik der Frankfurter<br />
Schule mit konservativen Denkströmungen. 555<br />
Der geschichtsphilosophische Optimismus, auch durch die Katastrophen hindurch noch einen Fortschritt<br />
erkennen zu können, wurde durch das wirkmächtige Gegenbild <strong>des</strong> Angelus Novus auf den Begriff gebracht. So<br />
beschrieb Walter Benjamin das Bild von Paul Klee, auf dem ein Engel rückwärts mit Blick auf die<br />
Vergangenheit aus dem Paradies geblasen wird. Auf seinem Weg durch die Geschichte bekommt er nur die<br />
Folgen zu sehen, was sich als Fortschritt geriert: Die Anhäufung von Katastrophen und von Trümmer auf<br />
Trümmer. Und der Sturm ist das, was wir Fortschritt nennen. 556<br />
Das 20. Jahrhundert ist gegenüber den großen Narrativen skeptisch geworden, weil ein Grundwiderspruch<br />
erkennbar wurde. Der bürgerliche Staat zog seine Legitimation aus dem Versprechen, umfassende Sicherheit zu<br />
garantieren: Leben und Freiheit der Einzelnen zu schützen und auch die materielle Besserung der<br />
Lebensumstände herbeizuführen durch die Entfesselung der innovativen Kräfte.<br />
Am Ende <strong>des</strong> 20. Jahrhunderts stand die Erkenntnis, dass dieser Prozess auch die Sicherheit der Menschen<br />
umfassend gefährden kann. Mehr noch: Die Entwicklung der Technik, häufig auch aus der Notwendigkeit<br />
entstanden, Risiken zu minimieren, schuf neue und größere Risiken, auf die wiederum technische Antworten<br />
gesucht wurden. Das wiederum korrespondiert mit der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass die Entwicklung der<br />
552 Vgl. Rostow, Walt W. (1960). The Stages of Economic Growth.<br />
553 Vgl. Marx, Karl; Engels, Friedrich (1867, 1968). Das Kapital: 741f.<br />
554 Die Enzyklika Rerum Novarum gilt als die Mutter aller Sozialenzykliken. Papst Leo XIII ging damit als<br />
Arbeiterpapst in die Geschichte ein.<br />
555 Vgl. dazu paradigmatisch Adorno, Theodor; Horkheimer, Max (1944, 1947, 1969). Dialektik der Aufklärung;<br />
vgl. ebenso Freyer, Hans (1955). Theorie <strong>des</strong> gegenwärtigen Zeitalters.<br />
556 Vgl. Benjamin, Walter (1974, 1991). Über den Begriff der Geschichte: 697 f.<br />
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