Für meine Eltern Lena & Rolf - Monkeydick-Productions
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Auch Bertolt Brecht kann mit seinen Lehrstücken (besser „Lern-Stücken“) als<br />
Anregung für unser Krisenexperiment herangezogen werden. Sie können als ein<br />
ästhetischer sowie sozialer, ein sinnlich-körperlicher sowie intellektueller<br />
Erkenntnisprozess verstanden werden. Nach der Lehre sucht man in den<br />
Stücken allerdings vergeblich, vielmehr lehren sie, soziale Wirklichkeit<br />
kritischer wahrzunehmen. Das Lehrstück entwickelt seine Lehre im Handeln<br />
und nicht im Betrachten (vgl. Wrentschur 2004: 254). Mit üblichen ästhetischen<br />
Maßstäben brechend, gilt als Schlüsselelement von Brechts epischen 37 Theater<br />
der V-Effekt (Verfremdungseffekt) durch Rollentausch, Perspektivenwechsel,<br />
Kommentare, Unterbrechungen etc. (vgl. ebenda: 255). In Abgrenzung zur<br />
aristotelischen Tradition wird in dem neuen Theater das psychologische Spiel<br />
durch parabelhafte Zuspitzung ersetzt. Der Schauspieler hat sich dem<br />
Rollencharakter seiner Rolle bewusst zu bleiben, da das vollkommene<br />
Aufgehen des Schauspielers in der Rolle die Gefahr birgt, dass der Zuschauer<br />
nur zur bloßen Identifikation mit den Bühnengestalten eingeladen wird.<br />
Stattdessen soll die Schauspielkunst über die Distanz menschliche<br />
Verhaltensweisen und soziale Verhältnisse thematisieren (vgl. Brecht 1993:<br />
373). 38<br />
Schon der Brechtsche Text kann als eine Intervention verstanden werden. <strong>Für</strong><br />
unsere Untersuchung soll das Brechtsche Lehrstück im Sinne einer Simulation<br />
sozialer Konflikte auch für die sozialforscherische Perspektive fruchtbar<br />
gemacht werden. Simulationen sind auf eine besondere Art und Weise in der<br />
Realität verankert. Indem sie etwas vortäuschen, was so nicht existiert, wird es<br />
zur Realität, weil sie es vortäuschen. Ulrich Bröckling bezieht das Beispiel auf<br />
Mitarbeiter, die keine Unternehmer sind. Indem man sie als Unternehmer<br />
anruft, wird das Unternehmermodell zur Norm und besitzt Einfluss auf das<br />
Verhalten (vgl. Bröckling 2007: 63). Der spielerische Charakter unseres<br />
Krisenexperiments ermöglicht die Simulation von Habitualisierungen. Damit<br />
zeichnet sich unser Krisenexperiment auch durch die Nähe zum politischen<br />
Straßentheater Augusto Boals aus. In Boals „Theater der Unterdrückten“ kommt<br />
37 Die Spielweise wurde wegen ihres „[…] deutlich referierenden, beschreibenden Charakters<br />
und weil sie sich kommentierender Chöre und Projektionen bediente […]“ als episch<br />
bezeichnet (vgl. Brecht 1993: 371).<br />
38 Auch die russische Gruppe „Chto delat“ (Was tun?) bedient sich des Verfremdungseffektes.<br />
Sie hat sich 2003 in einer Aktion und einer Reihe von Interviews mit der Tätigkeit des<br />
„Sandwichmannes“, die ehemals der Inbegriff für Ausbeutung heute als Niedriglohnjob im<br />
postsowjetischen Raum weit verbreitet ist, beschäftigt. Sie inszenierte die „Rache der<br />
Sandwichmänner“ als theatrales Happening. Sie brachten das Brecht-Gedicht „Lob der<br />
Dialektik“, von Sandwichmännern und –frauen getragen, die sich ihrer widersprüchlichen<br />
Lage bewusst geworden waren, auf die Straße. Die Sandwichmänner kommen mit ihren<br />
Körpern als Textträger zusammen. Jeder der Akteure las die Brecht-Strophe, die er trug (vgl.<br />
springerin 2006: 24ff.).<br />
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