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Regionale Schulgeschichte - oops - Carl von Ossietzky Universität ...

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gerne reden. Aber meine Mutter wollte das nicht. Sie fand es furchtbar,<br />

dass er darüber mit viel Witz erzählte. Er hat in den Lagern sofort<br />

angefangen zu zeichnen. Das Lager in Neumünster, mitten in Schleswig-Holstein,<br />

war in einer geräumten Lederfabrik untergebracht und<br />

stand damals voller Stapelbetten. Diesen Gebäudekomplex habe ich,<br />

genau wie alle anderen Lager, in denen er gewesen ist, später mit meinem<br />

Bruder besucht. In diesem Lager gab es damals ein lebendiges<br />

soziales Leben. Dort waren Tausende des Nazismus verdächtigte<br />

Männer <strong>von</strong> ganz unterschiedlicher Herkunft untergebracht, Intellektuelle,<br />

Bauern, Gewerbetreibende. Sie warteten auf eine Untersuchung<br />

und eventuell ihren Gerichtstermin oder aber auf ihre Freilassung. Sie<br />

haben sich inmitten dieser vielen Schlafpritschen furchtbar gelangweilt.<br />

Und so haben sie angefangen, sich gegenseitig alles zu erzählen,<br />

was sie wussten. So entstand eine Art Volksuniversität. Mein Vater<br />

hörte sich vieles an, aber hat selbst auch eine Art Vorlesungen über<br />

die Kunst des niederländischen ‚Goldenen Jahrhunderts‘ gehalten.<br />

Und er zeichnete viele Porträts <strong>von</strong> Lagergenossen. Anfänglich wurden<br />

die Gefangenen <strong>von</strong> ehemaligen Gefangenen der Nazis bewacht.<br />

Das ging nicht gut. Es entstand damals eine Art Gemeinschaft zwischen<br />

den Internierten. Es gab Stubenälteste, Blockälteste und Wortführer.<br />

In Rücksprache mit den Engländern bekamen sie die Zustimmung,<br />

das Lager selbst zu führen. Unter den vier Besatzungsmächten,<br />

den Engländern, den Amerikanern, den Franzosen und den Russen,<br />

scheinen die Engländer bei weitem am klügsten und humansten aufgetreten<br />

zu sein.<br />

Mein Vater hat in dieser Zeit viele Dinge festgehalten. So hat er z.B.<br />

eine ‚Kreuzung <strong>von</strong> Durchgängen zwischen den Stapelbetten‘ ganz<br />

genau nachgezeichnet. Denn das war ein wichtiger Ort im Lager: Jeder,<br />

der etwas zu erzählen hatte, erzählte es dort. Indem er Porträts<br />

zeichnete, versuchte Vater, etwas für uns zu verdienen. Manchmal<br />

wurden wir in Lunden <strong>von</strong> ehemaligen Gefangenen aus dem Lager besucht,<br />

die uns aus Dank für ihr Porträt – das ihnen immer ganz ähnlich<br />

sah – etwas brachten, Nahrung oder Haushaltsgegenstände. Vater<br />

machte in dieser Zeit viele schöne, kleine Zeichnungen und wurde in<br />

dieser Arbeit sehr versiert. Er genoss wegen der Zeichnungen große<br />

Wertschätzung im Lager. Im Lager saßen auch ganz gebildete und interessante<br />

Menschen. Vater hatte vorher nie Umgang mit Intellektuellen<br />

gehabt. Das alles erklärt, warum er später gerne über die Lagerzeit<br />

erzählen wollte. Aber dazu bekam er wenig Chancen, weil meine<br />

Mutter das nicht angenehm fand. Es ist seltsam, fast ein Tabu, das zu<br />

sagen, aber Vater hat – trotz der physischen Schwierigkeiten, denn er

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