Johann Nepomuk Nestroy Tradizione e trasgressione a cura di ...
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Sigurd Paul Scheichl<br />
Überleben denken, der andere, in (mindestens scheinbar) besserer materieller<br />
Position, kann in Floskeln sprechen, <strong>di</strong>e “edel” klingen, deren Sprecher<br />
aber nicht edel ist und kein Verständnis für <strong>di</strong>e reale Lebenssituation<br />
des (eines) Anderen hat. Titus bringt das in der letzten Replik meines Zitats<br />
sachlich so scharf auf den Punkt wie sprachlich: «Der Marquis hat ein<br />
Zartgefühl – wenn er ein schun<strong>di</strong>ger Kerl wär’, hätt’ ich grad ’s Nehmliche<br />
davon». Sachlich, weil derartiges edelmütige Geschwätz dem Notleidenden<br />
nicht hilft; sprachlich, weil «schun<strong>di</strong>g», ein fast derbes Wort, realistischem<br />
Sprechen, das von der Stilebene her fast gehobene «Zartgefühl»<br />
eher verlogenem small talk zuzuordnen ist. Diese Zuspitzung der Kontraste<br />
ist <strong>Nestroy</strong>s Leistung.<br />
Sie ist insofern mehr als bloß komisch, ist in anderer Weise satirisch als<br />
<strong>di</strong>e Verarbeitung des überzeitlichen Motivs der Vorurteile, als <strong>di</strong>e bei Dupuy<br />
und de Courcy allerhöchstens in Ansätzen zu beobachtende Konfrontation<br />
zweier Sprechweisen bei <strong>Nestroy</strong> eine gesellschaftliche Konfrontation<br />
ist. Eine satirische Konfrontation nicht zwischen Reich und<br />
Arm (das ist sie an <strong>di</strong>eser Stelle – mindestens auf den ersten Blick – aller<strong>di</strong>ngs<br />
auch, doch nur in zweiter Linie), sondern eine zwischen jenen, <strong>di</strong>e<br />
sachbezogen reden, und solchen, deren Frasen keinen Bezug zur Welt<br />
mehr haben, in der sie und andere leben und sich orientieren, sich irgendwie<br />
durchbringen müssen. Vermutlich nimmt man zu Recht an,<br />
Marquis solle hier als «schun<strong>di</strong>ger Kerl», als Geizkragen erscheinen; darin<br />
liegt <strong>di</strong>e Relevanz der Stelle für <strong>di</strong>e Charakterisierung der Figur 23 . Darüberhinaus<br />
hat der Dialog aber ein satirisches Ziel, nicht <strong>di</strong>e Geizkrägen,<br />
<strong>di</strong>e es immer gibt und immer gegeben hat, sondern das Verbergen<br />
schlechter Eigenschaften in fast automatisierten sprachlichen Abläufen,<br />
<strong>di</strong>e von Karl Kraus später in den Mittelpunkt seiner Satire gerückte<br />
«Phrase».<br />
Als Frasen, eines konkreten Inhalts weitgehend entleerte Klischees<br />
empfindet man in <strong>di</strong>esem kurzen Textausschnitt jedenfalls: «Mit Geld läßt<br />
sich so eine That nicht lohnen», «ein Mann von solcher Denkungsart»,<br />
«durch eine Summe aufwiegen», «der wahre Danck ist ohnehin stumm»,<br />
vielleicht noch andere Stellen.<br />
23 In der Diskussion zum Vortrag hat Reinhard Urbach eine andere Deutung der<br />
Stelle vorgeschlagen: Marquis kann Titus nicht mit Geld belohnen, weil er keines hat,<br />
weil er ein Hochstapler ist. Für <strong>di</strong>ese Deutung spricht auch der mit einem Adelstitel<br />
identische Name der Figur. Für meine Argumentation sind <strong>di</strong>e Gründe von Marquis für<br />
seine Knausrigkeit aller<strong>di</strong>ngs nicht so wichtig, dass ich hier auf das Verständnis <strong>di</strong>eser<br />
Figur im Detail eingehen müsste.