Johann Nepomuk Nestroy Tradizione e trasgressione a cura di ...
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Reinhard Urbach<br />
Gluthammers verlorene Mathilde, der Schmarotzer willfährige Kokotte<br />
ist), da kehrt auch schon <strong>di</strong>e alte Lethargie wieder – und er schläft ein.<br />
Wer aufwacht, ist nicht der Raisonneur, sondern Lips, der sich auf in<br />
ihm schlummernden, ursprünglichen Atavismus besinnt und mit dem<br />
cholerischen Gluthammer, einem Amokläufer seiner Einbildung, eine<br />
Rauferei beginnt, <strong>di</strong>e mit dem beiderseitigen Sturz in den Fluss endet.<br />
Mit <strong>di</strong>esem Sturz reißt <strong>Nestroy</strong>, der Dramatiker, das Geschehen in gewollter<br />
Plötzlichkeit herum:<br />
Was das Publikum bisher für Antikörper gegen Lips gebildet haben<br />
mag, wendet sich in eine ambivalente Mischung aus Schadenfreude und<br />
Mitleid. Aus der Höhe seines von Gunkel ausstaffierten reichen Lebens<br />
stürzt er ab in <strong>di</strong>e nackte Existenzangst als eingebildeter Mörder.<br />
Wenn Titus Feuerfuchs im Talisman von der trick- und trugreich erkletterten<br />
Karriereleiter wieder herunterstürzt, so kostet es nicht das Leben.<br />
Wenn Knieriem in Lumpazivagabundus den Weltuntergang überlebt, so<br />
ist das kein Unglück.<br />
Wenn Weinberl in Einen Jux will er sich machen in Verstecke und Verstellungen<br />
gehetzt wird, so geht es doch nicht um <strong>di</strong>e Existenz.<br />
Im Zerrissenen erspart <strong>Nestroy</strong> seiner Hauptfigur den vermeintlichen<br />
Absturz in ir<strong>di</strong>sche Höllenangst vor Kerker und Hinrichtung nicht.<br />
Uns, dem Publikum, aber sehr wohl. Wir wissen bald, dass der Mord<br />
nur ein eingebildeter ist, unter welcher Einbildung auch sein Kontrahent<br />
Gluthammer leidet. Wir, das Publikum, können uns zurücklehnen und in<br />
der Sicherheit wiegen, dass sich alles in Wohlgefallen auflösen wird.<br />
Das hat <strong>Nestroy</strong> uns, dem zahlenden Publikum, vergönnt, dass wir<br />
mehr wissen als seine Figur und damit eine vorübergehende infame<br />
Überlegenheit über einen Menschen spüren dürfen, der bald wieder reicher<br />
sein wird als wir alle.<br />
Auch in der Zeit der Angst, auch in der Notwen<strong>di</strong>gkeit der Verstellung,<br />
auch in dem Erlebnis der Liebe hat der Raisoneur seine Figur nicht verlassen,<br />
sondern mit der blumigen Suada und mit zwei weiteren Couplets<br />
Lazzi (Verkleidungen) und Slapstick (Geisterfurcht) verträglich gemacht.<br />
So dass <strong>di</strong>e Diskrepanz zwischen Figur und Rolle stets bewusst blieb.<br />
Lips wird als Figur nicht besser, weil <strong>Nestroy</strong> (oder jeder vergangene und<br />
zukünftige «<strong>Nestroy</strong>»-Schauspieler) sie spielt. Er ist in jedem Moment seiner<br />
Figur überlegen. Er hat den Durckblick, <strong>di</strong>stanziert sich von Lips, indem<br />
er ihn und seine Situation gnadenlos analysiert. Der Figur gehört das<br />
Kreatürliche: Völlerei – Rausch – Schlaf – Prügelei – Todesangst – Gei-