Unipolare Depression Langfassung - Versorgungsleitlinien.de
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H 1.3 Ätiopathogenese und Risikofaktoren<br />
<strong>Depression</strong>en umfassen kein homogenes Krankheitsbild. Erklärungshypothesen lassen sich<br />
vereinfacht biologischen und psychologischen Mo<strong>de</strong>llvorstellungen zuordnen [66; 158; 159], wobei<br />
keiner dieser Ansätze bisher eine überzeugen<strong>de</strong> monokausale Erklärung liefern konnte. Die<br />
Heterogenität <strong>de</strong>r Symptome <strong>de</strong>pressiver Störungen macht es auch unwahrscheinlich, dass ein Faktor<br />
allein für die Entstehung einer <strong>Depression</strong> verantwortlich ist. Daher wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Mehrzahl <strong>de</strong>r<br />
Experten multifaktorielle Erklärungskonzepte angenommen, die von einer Wechselwirkung aus<br />
biologischen und psychosozialen Faktoren ausgehen. Die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Faktoren<br />
kann von Patient zu Patient erheblich variieren. Insofern umfasst <strong>de</strong>r <strong>Depression</strong>sbegriff ein breites<br />
Spektrum psychischer Störungen, das von weitgehend eigengesetzlich verlaufen<strong>de</strong>n (o<strong>de</strong>r:<br />
biologisch <strong>de</strong>terminierten) Erkrankungen über eine Kombination verschie<strong>de</strong>ner Faktoren bis zu<br />
weitgehend psychosozial <strong>de</strong>terminierten Erkrankungen reicht.<br />
Mehrere Studien an großen Populationen belegen die erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten<br />
affektiver Störungen bei genetisch vulnerablen Individuen [160-165]. Das Auftreten einer affektiven<br />
Störung soll nach einem Vulnerabilitäts-Stress-Mo<strong>de</strong>ll erst im Zusammenspiel mit Auslösefaktoren wie<br />
hormoneller Umstellung im Wochenbett o<strong>de</strong>r körperlichen Erkrankungen sowie psychosozialen<br />
Faktoren (z. B. Verluste, Trennungen, berufliche Enttäuschungen, Überfor<strong>de</strong>rungen, interpersonelle<br />
Konflikte, Beziehungskrisen, mangeln<strong>de</strong> soziale Unterstützung usw.) bedingt wer<strong>de</strong>n [93].<br />
Nach genetisch epi<strong>de</strong>miologischen Studien treten <strong>de</strong>pressive Störungen familiär gehäuft auf.<br />
Angehörige ersten Gra<strong>de</strong>s haben ein etwa 50 % höheres Risiko als die Allgemeinbevölkerung, selbst<br />
an einer unipolaren <strong>de</strong>pressiven Störung zu erkranken. In einer dänischen Zwillingsstudie wur<strong>de</strong><br />
gezeigt, dass die Konkordanzraten für bipolare Verläufe bei eineiigen Zwillingen bei 80 %, bei<br />
zweieiigen Zwillingen bei 15-20 % liegen [160]. Die Konkordanzraten für unipolare Verläufe betragen<br />
bei eineiigen Zwillingen um 50 %, bei zweieiigen Zwillingen 15-20 %.<br />
Bislang ist es jedoch noch nicht gelungen, genetische Marker auf DNA-Ebene zu lokalisieren. Es wird<br />
davon ausgegangen, dass affektive Störungen durch Alterationen auf verschie<strong>de</strong>nen Genen (mit-)<br />
verursacht wer<strong>de</strong>n und dass sich diese in verschie<strong>de</strong>nen Familien und bei <strong>de</strong>n jeweils erkrankten<br />
Individuen unterschiedlich kombinieren (zusammenfassend [93]).<br />
Das Vorliegen einer <strong>de</strong>pressiven Störung bei <strong>de</strong>r Mutter gilt per se als Risikofaktor für die spätere<br />
Entwicklung einer <strong>de</strong>pressiven Störung, wobei unklar bleibt, welchen Anteil die genetische und<br />
nichtgenetische Transmission bzw. die nichtgenetischen Faktoren hieran haben [166].<br />
Tierexperimentelle Forschungsarbeiten zur <strong>Depression</strong> legen nahe, dass die Stressreaktion bzw.<br />
Stressbewältigung entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Einfluss auf die an affektiven Störungen beteiligten<br />
Neurotransmittersysteme hat. Dabei spielt eine zentrale Rolle, ob die Stressquelle kontrolliert wer<strong>de</strong>n<br />
kann o<strong>de</strong>r nicht. Sind die Stressoren etwa nach <strong>de</strong>m Paradigma erlernter Hilflosigkeit<br />
unkontrollierbar, überfor<strong>de</strong>rt dies bei anhalten<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>rholter Stressexposition die<br />
zentralnervösen Stressadaptationsmöglichkeiten schneller, als wenn eine Kontrolle wahrgenommen<br />
wird; die Folge ist <strong>de</strong>pressionsäquivalentes Verhalten [167; 168].<br />
Beson<strong>de</strong>rs schwerer chronischer Stress wur<strong>de</strong> durch Separationsexperimente induziert, in <strong>de</strong>nen bei<br />
jungen Primaten eine frühe Trennung von <strong>de</strong>r Mutter erfolgte [169-171]. Diese Befun<strong>de</strong> haben für die<br />
<strong>Depression</strong>sforschung beim Menschen hohe Relevanz: Depressive Patienten haben in ihrer Kindheit<br />
im Vergleich zu gesun<strong>de</strong>n Kontrollpersonen zwei- bis drei-Mal so häufig Verlusterlebnisse, was<br />
<strong>de</strong>n Schluss zulässt, dass Trennungserlebnisse eine gesteigerte Vulnerabilität bedingen, im späteren<br />
Leben <strong>de</strong>pressiv zu erkranken [172-175]. Prospektive Studien zeigen, dass chronischer Stress am<br />
Arbeitsplatz – z. B. durch hohe Anfor<strong>de</strong>rungen bei gleichzeitig subjektiver geringer autonomer<br />
Kontrolle über Arbeitsabläufe und -umfang und einem Missverhältnis von notwendiger Anstrengung<br />
und (i<strong>de</strong>eller und materieller) Belohnung – prädiktiv für Depressivität ist (OR = 1.8 [176]).<br />
Ein psychodynamisches Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Beziehungsgeschichten <strong>de</strong>pressiver Menschen beschreibt, wie<br />
sehr <strong>de</strong>ren Trennungsempfindlichkeit erhöht ist, so dass eine ständige Abhängigkeit von wichtigen<br />
Bezugspersonen o<strong>de</strong>r ein Gefühl von Beziehungslosigkeit und Einsamkeit bleibt [177]. Die frühen<br />
Beziehungserfahrungen können von fehllaufen<strong>de</strong>n affektiven Abstimmungsprozessen zwischen <strong>de</strong>n<br />
primären Bezugspersonen und <strong>de</strong>m später <strong>de</strong>pressiv wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kind geprägt sein [178]. Die<br />
elterlichen Affekte wer<strong>de</strong>n in einem intergenerationalen Transfer von Stimmungszustän<strong>de</strong>n vermittelt<br />
© 2009 54