REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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zweierlei gesagt werden:<br />
Erstens genügt es nicht, an ein verbreitetes Vorurteil über die angeblich auch von<br />
Gebildeten nicht beherrschbare Dudenorthographie zu appellieren. Man „beherrscht“<br />
die Rechtschreibung nicht erst dann, wenn man jedes gehörte Wort ohne Nachschlagen<br />
dudenkonform <strong>schreiben</strong> kann. Das wäre allenfalls bei einer reinen Lautschrift<br />
möglich, nicht aber in einer ganz anders gearteten Schreibtechnik wie der deutschen,<br />
englischen und französischen. Diese Orthographien sind nicht nur Techniken, die man<br />
können, sondern auch Arsenale, die man kennen muß.<br />
Zweitens ändert die Reform an den allermeisten Schwierigkeiten der deutschen<br />
Rechtschreibung gar nichts; sie berührt schon vom Umfang her nur einen winzigen<br />
Teil der Wortschreibungen. 89 Ein Blick in Schüleraufsätze zeigt, daß die unendlich<br />
vielen Möglichkeiten, Fehler zu machen, größtenteils erhalten bleiben und sogar neue<br />
eröffnet werden. Wo es jedoch neuerdings „nicht mehr darauf ankommt“, wie beim<br />
Komma in gewissen – keineswegs allen! – Zusammenhängen, da tritt eine<br />
Vergröberung und Verschlechterung auf Kosten des Lesers ein, die dennoch nicht<br />
einmal dem Schreibenden eine Erleichterung bringt, da er wiederum lernen muß, an<br />
welchen Stellen er jetzt mehr „Freiheit“ genießt und an welchen nicht.<br />
Der Traum von einer „Rechtschreibung für alle“ ist auf der Grundlage der im<br />
Deutschen akzeptierten, von der Reform grundsätzlich auch nicht angetasteten<br />
prinzipiellen Orientierung nicht erfüllbar. A&S <strong>schreiben</strong> zwar: „Rechtschreibung ist<br />
keine Kunstübung.“ Aber genau dies ist sie und soll sie nach der Reform auch bleiben.<br />
Durch ständiges Anprangern der komplizierten Dudennorm bei gleichzeitigem<br />
Anpreisen der Neuregelung wird suggeriert, die Neuregelung sei einfacher. Das ist<br />
nachweislich nicht der Fall. Die „Grundregeln“ sind auch bei der bisherigen Regelung<br />
einfach zu verstehen und zu erlernen, und am Detail und den Randbereichen ändert<br />
sich, was die Kompliziertheit angeht, überhaupt nichts. Ein Blick in das neue<br />
Paragraphendickicht genügt, um sich davon zu überzeugen. Leider geben die<br />
vereinfachten Popularisierungen, die A&S selbst sowie andere Reformer ausgearbeitet<br />
und massenhaft verbreitet haben, ein völlig falsches Bild. Die Reformer Gallmann und<br />
Sitta stellen mit Recht fest, daß auch die neue Rechtschreibung nicht in wenigen Jahren<br />
zu erlernen, sondern ein Pensum für die gesamte Schulzeit sei. Sie haben auch offen<br />
ausgesprochen, daß zahllose Ausnahmen und Ausnahmen von Ausnahmen nunmehr als<br />
„Erläuterungen“ getarnt auftreten.<br />
Mit der vielgerühmten Einfachheit der ursprünglichen Dudenregeln von 1902 ist es<br />
auch nicht weit her. Sie beruht zum Teil darauf, daß gewisse notorisch komplizierte<br />
Bereiche wie die Getrennt- und Zusammenschreibung und die Zeichensetzung kaum<br />
oder gar nicht geregelt wurden, während gerade die Neuregelung darauf<br />
außerordentlich detailliert eingeht.<br />
Um die staatliche Regelungskompetenz zu untermauern, stellen A&S fest:<br />
„Aufbauend auf Spontanschreibungen wird die Rechtschreibung bewusst und<br />
systematisch in der Schule gelernt.“<br />
Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Wie in allen seinen übrigen Schriften vergißt<br />
89 Diese Eigenschaft der Reform wird, wenn es gerade paßt, als ihre „Behutsamkeit“<br />
gerühmt. Ein zweischneidiges Lob, denn woher soll die Fehlerverminderung um 30, 50<br />
oder mehr Prozent kommen, wenn sich an einem Normaltext fast nichts ändert?<br />
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