REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
legt nahe, auch bei Weitem 107 , der Andere usw. groß zu <strong>schreiben</strong>, damit keinerlei<br />
„Ausnahmen“ (wie er sie versteht) mehr auftreten. Wann immer das geringste Indiz<br />
von „Nominalität“ zu beobachten ist, soll groß geschrieben werden. All dies wiederholt<br />
eine längst erledigt geglaubte Diskussion des vorigen Jahrhunderts. Denn damals gab<br />
es eine Zeitlang diese vermehrte Großschreibung, bis sie auf ein <strong>vernünftig</strong>es und zugleich<br />
raffinierteres Maß zurückgeführt wurde – bei großzügig bemessenen<br />
Freiräumen bis zum heutigen Tag.<br />
Mein Hauptargument gegen die vermehrte Großschreibung wird überhaupt nicht<br />
beachtet: Groß zu <strong>schreiben</strong>de Wörter müssen die Minimalbedingung erfüllen, etwas<br />
zu bezeichnen, wovon im Text die Rede ist. Daher ist es widersinnig, substantivierte<br />
Adjektive in bloßen Phraseologismen groß zu <strong>schreiben</strong>: nicht im Geringsten, aufs<br />
Schönste, des Öfteren usw. – Munske hat im gleichen Sinne die Großschreibung<br />
grammatikalisierter Lexeme kritisiert, die das Paradigma der Pronomina und<br />
Numeralia ergänzen: der Einzelne, der Erste.<br />
Die Ausführungen zu heute Abend usw. sind irrelevant. Von Gallmanns Kriterien<br />
spricht nur das ärmlichste für die Großschreibung von Abend: daß es nämlich im<br />
deutschen Wortschatz auch ein Substantiv Abend gibt. Gallmann selbst hat aber 1991<br />
gezeigt, daß es sich in der Verbindung heute abend nicht um ein Substantiv handeln<br />
kann, weil es nicht kasusbestimmt ist (eine Bedingung, die nach § 55 der Neuregelung<br />
weiterhin gültig bleibt). Der Vergleich der Paradigmen spricht für sich selbst: Auf die<br />
Frage Wann kommst du? war die Antwort bisher: heute abend, morgen früh, Dienstag<br />
mittag. Neu: heute Abend, morgen früh 108 , Dienstagmittag. – Was soll daran einfacher<br />
sein?<br />
Zu angst, gram usw. glauben A&S meine Beobachtung zurückweisen zu müssen, daß<br />
es sich hier teilweise um „alte Adjektive“ handelt. Natürlich spielt die Sprachgeschichte<br />
keine Rolle für die Begründung heutiger Klein- oder Großschreibung. Mein<br />
Hinweis war jedoch berechtigt, weil das Regelwerk selbst in § 56 eine sprachgeschichtliche<br />
Behauptung aufstellt, und zwar eine falsche: Die betreffenden Wörter<br />
sollen „ihre substantivischen Merkmale eingebüßt und die Funktion anderer Wortarten<br />
übernommen haben“. Das trifft auf die Hälfte der angeführten Beispiele nachweislich<br />
nicht zu.<br />
Das Argument, angst, pleite usw. könnten keine Adjektive sein, weil es *der angste<br />
Mann, *der pleite Mann nicht gebe, ist von umwerfender Naivität. Nicht alle Adjektive<br />
sind ja attributiv verwendbar, und pleite soll sogar auch nach der Neuregelung Adjektiv<br />
sein, nur eben nicht in Pleite gehen. (Vgl. jedoch kaputtgehen, bankrott gehen; hier<br />
verlangt die Neuschreibung Bankrott gehen – nach Bankrott machen, nicht nach<br />
bankrott sein, wie es richtig wäre!)<br />
Bei Er ist ihm Feind erkennen A&S bis zum heutigen Tage nicht, daß es semantisch einen<br />
Unterschied macht, ob man jemandem feind bzw. freund (= feindlich, freundlich<br />
107 Die „Informationen“ der KMK vom 1.12.1995 nahmen irrigerweise an, daß die am<br />
selben Tage beschlossene Neuregelung bereits die Großschreibung bei von Weitem, vor<br />
Kurzem usw. vorsehe. Der Fehler deutet darauf hin, daß es auf diesem Gebiet ein<br />
ständiges Hin und Her gab, bis niemand mehr so recht wußte, welchen mehr oder<br />
weniger zufälligen Stand die Diskussion am Ende erreicht hatte.<br />
108 Nachtrag: Die Rechtschreibkommission beschloß später, auch morgen Früh (!) zuzulassen;<br />
so steht es in den Neuauflagen von Bertelsmann (1999) und Duden (2000).<br />
116