REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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und Literaturwissenschaft unterschriebene Erklärung vor. Nicht einmal diese Erklärung<br />
hat das Gericht offenbar dazu veranlassen können, Fachleute außerhalb des<br />
immergleichen Kreises der Reformer zu Rate zu ziehen.<br />
Das Gericht stellt zutreffend fest, daß das Grundgesetz kein Verbot enthalte, die<br />
Rechtschreibung zum Gegenstand staatlicher Regelung zu machen. Der Staat dürfe<br />
hier im Gemeinwohlinteresse handeln, auch ohne besondere Ermächtigung durch die<br />
Verfassung. Dann folgen die zentralen Aussagen:<br />
„Auch aus der Eigenart der Sprache folgt kein absolutes Regelungsverbot. Die<br />
Annahme, die Sprache ,gehöre‘ dem Volk, kann ein solches Verbot nicht<br />
begründen; denn weder bringt das ,Gehören‘ eine Zuordnung im Rechtssinn zum<br />
Ausdruck noch könnte die der Annahme zugrunde liegende These, falls ihr<br />
rechtlicher Gehalt zukäme, eine staatliche Befassung verhindern. Daß ein<br />
Gegenstand dem Staat nicht ,gehört‘, hindert diesen nicht daran, seinen Gebrauch<br />
bestimmten Regeln zu unterwerfen. Auch der Umstand, daß die Sprache nicht aus<br />
staatlicher Quelle fließt und sich im gesellschaftlichen Gebrauch von selbst<br />
entwickelt, steht einer staatlichen Regelung nicht entgegen. Diese Eigenschaften<br />
teilt die Sprache mit zahlreichen Regelungsgegenständen. Die Sprache<br />
unterscheidet sich von anderen Regelungsgegenständen auch nicht dadurch, daß<br />
bei ihr korrekturbedürftige Fehlentwicklungen – etwa im Sinn erschwerter Lehr-<br />
und Lernbarkeit – von vornherein ausgeschlossen wären. Der Staat kann die<br />
Sprache deswegen aber nicht beliebig regeln. Begrenzende Wirkungen ergeben<br />
sich aus der Eigenart der Sprache jedoch nur für Art und Ausmaß einer Regelung,<br />
nicht dagegen für eine Regelung überhaupt.<br />
Auch ein generelles Verbot gestaltender Eingriffe in die Schreibung läßt sich dem<br />
Grundgesetz nicht entnehmen. Der Staat ist nicht darauf beschränkt, nur<br />
nachzuzeichnen, was in der Schreibgemeinschaft ohne seinen Einfluß im Lauf<br />
der Zeit an allgemein anerkannter Schreibung entstanden ist. Regulierende<br />
Eingriffe, die Widersprüche im Schreibusus und Zweifel an der richtigen<br />
Schreibung beseitigen oder – etwa aus Vereinfachungsgründen – bestimmte<br />
Schreibungen erstmals festlegen, sind ihm ebenfalls grundsätzlich erlaubt.“<br />
An diesen Feststellungen ist dreierlei besonders bemerkenswert:<br />
1. Der Staat darf die Sprache regeln, nicht nur die Schrift. Der Wechsel der<br />
Redeweise von der strittigen Orthographie zur Sprache kann nicht auf Zufall oder<br />
Nachlässigkeit beruhen, denn die ganze Argumentation zum Thema „Die Sprache<br />
gehört dem Volk“ ist nur sinnvoll, wenn tatsächlich die gesamte Sprache gemeint ist,<br />
die hier ausdrücklich als Gegenstand staatlicher Regelung aufgefaßt wird.<br />
Da die Sprache in gewisser Weise gar kein „Gegenstand“ ist, der sich von seinem<br />
„Gebrauch“ unterscheiden ließe – denn sie ist selbst ein Brauch, eine Gesamtheit von<br />
gesellschaftlich-kommunikativen Umgangsformen –, ist die Argumentation an sich<br />
schon bedenklich. Es ist nicht möglich, zwischen eigengesetzlicher Entstehung und<br />
staatlich geregeltem Gebrauch zu unterscheiden, als ginge es um das natürliche<br />
Wachstum der Bäume einerseits und die Beschränkung ihrer Abholzung in der<br />
staatlichen Baumschutzverordnung andererseits.<br />
Ein staatlicher Eingriff in die Sprache war zum Beispiel die Ablösung der<br />
landesüblichen Grußformeln durch den „Deutschen Gruß“ während der nationalsozialistischen<br />
Herrschaft. Dies war ein durchaus normschöpferischer („gestaltender“)<br />
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