REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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An dieser Stelle sei auch auf einen Widerspruch hingewiesen, der das gesamte Urteil<br />
durchzieht. Einerseits legitimiert sich die Reform nach Ansicht der Richter dadurch,<br />
daß die Neuregelung mit großer Wahrscheinlichkeit zum Schreibgebrauch der<br />
gesamten Sprachgemeinschaft werden wird, wie es auch die Akzeptanzprognose des<br />
OVG Schleswig ins Auge gefaßt und mit Zitaten aus der Absichtserklärung und aus der<br />
Neuregelung selbst als erklärtes Ziel der Reform belegt hatte: „Die Rechtschreibreform<br />
ziele nicht nur auf eine Änderung der Schreibweise im Unterricht und in der<br />
Amtssprache. Reformiert werde zum 1. August 1998 die Schreibweise der deutschen<br />
Sprache überhaupt.“ (nach dem Urteil von Schleswig) – Andererseits beruft sich das<br />
Gericht dort, wo es um das Recht der Bürger auf sprachliche Integrität und Schutz vor<br />
Benachteiligungen geht, auf die Unverbindlichkeit der Reform für den<br />
außerschulischen Bereich:<br />
„Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den<br />
Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind<br />
rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die<br />
reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu<br />
<strong>schreiben</strong>.“<br />
„Die Schriftsprache wird sich wie bisher trotz bestehender amtlicher Regeln<br />
weiterentwickeln. Traditionelle Schreibweisen werden sich noch längere Zeit<br />
erhalten und, wie dies schon im ersten Bericht der Zwischenstaatlichen<br />
Kommission für deutsche Rechtschreibung vom Januar 1998 für eine Reihe von<br />
Fällen vorgeschlagen worden ist, als Schreibvarianten neben den reformierten<br />
Schreibweisen verwendet werden. Allenfalls auf lange Sicht läßt sich vorstellen,<br />
daß einzelne Schreibweisen von neuen – im hier behandelten Regelwerk<br />
enthaltenen oder später hinzugetretenen – abgelöst werden, sofern sich diese im<br />
Schreibusus der Schreibgemeinschaft durchsetzen.“<br />
Das Urteil rechnet also geradezu damit, daß die Neuregelung keineswegs den<br />
erwartbaren Zustand der orthographischen Praxis vorwegnimmt. Damit wird jedoch<br />
die Legitimation auch des reformierten Unterrichts teilweise entkräftet.<br />
Das Gericht bringt in allen Sachfragen, zu denen es sich selbst nicht kompetent äußern<br />
kann, den Kultusministerien ein nahezu unbegrenztes Vertrauen entgegen. Es ist der<br />
Meinung, „daß Sachkompetenz und Nähe zur schulischen Praxis die<br />
Kultusverwaltungen für die Entscheidung über Notwendigkeit, Inhalt, Ausmaß und<br />
Zeitpunkt einer Rechtschreibreform besonders qualifizieren“. Daß sich die<br />
Kultusverwaltungen schon durch die Einsetzung und Duldung einer so stark in die<br />
fachliche Kritik geratenen Kommission disqualifiziert haben, ferner durch die bereits<br />
erwähnten evident unwahren Behauptungen über die Wirkung der Reform, bleibt<br />
unberücksichtigt. Nicht das Urteil der Sprachwissenschaftler und der kritischen Lehrer,<br />
die sich immerhin auf umfangreiche Fehleranalysen stützen können, sondern die<br />
Kultusministerien erscheinen dem Gericht von vornherein als glaubwürdig, so daß es<br />
deren Behauptungen ohne nähere Nachprüfung für „vertretbar“ hält.<br />
Noch erstaunlicher ist die Ansicht des Gerichts, Rechtschreibreform falle zuvörderst in<br />
die Kompetenz der Schulbehörden, sei also eine didaktische Angelegenheit und keine<br />
die Schreibgemeinschaft als solche betreffende.<br />
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