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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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dargeboten. Unter Beiträger liest man: „Selbstverständlich unerwähnt blieb jedoch,<br />

dass der herausragende US-B. wegen Mordes und fortgesetzten Wahnsinns nicht weit<br />

von Oxford entfernt in einem Irrenhaus einsaß.“ Ist das für Beiträger typisch, und was<br />

ist überhaupt ein „US-Beiträger“? Derart sinnlose Zeilenschinderei mit unspezifischen<br />

Beispielen bläht das Werk nur unnötig auf.<br />

In der Neubearbeitung kommt jedoch noch etwas Neues, Unerhörtes hinzu. Das<br />

„authentische Quellenmaterial“ wird keineswegs in seiner authentischen Form<br />

angeführt, sondern nach den Maßgaben der Rechtschreibreform umgeschrieben. Dabei<br />

geht die Redaktion weit über die Änderung von ß in ss hinaus; sie greift in die<br />

Grammatik und Semantik der Texte ein. Zu wohlbehütet hieß es im Achtbänder: „Sie<br />

hatte eine wohlbehütete Kindheit genossen (Jaeger, Freudenhaus 171)“. Die<br />

Neuauflage bringt dieselbe Stelle als Beleg für getrennt geschriebenes wohl behütet:<br />

„Sie hatte eine wohl behütete Kindheit genossen (Jaeger, Freudenhaus 171)“. Zu<br />

wohldurchdacht: „bald wurde deutlich, daß er eine wohldurchdachte Konzeption<br />

vortrug (Heym, Schwarzenberg 39)“. Neuauflage: eine wohl durchdachte Konzeption.<br />

Nicht einmal dem Altbundespräsidenten nutzt es etwas, daß er geschrieben hat: „ein<br />

Verständnis von Kultur, das uns aus der deutschen Geistesgeschichte wohlvertraut ist<br />

(R. v. Weizsäcker, Deutschland 104)“. Sein eindeutiger Text muß in der Neuauflage als<br />

Beleg für zweideutiges wohl vertraut herhalten.<br />

Hans Magnus Enzensberger, der die deutsche Sprache doch wahrhaftig beherrscht wie<br />

nur irgend jemand, soll geschrieben haben: Die Passage ist zu nichts sagend (!), um<br />

hier zitiert zu werden. Anna Seghers schrieb von blaugewürfeltem Wachstuch, Thomas<br />

Mann von tiefliegenden Augen, Hans Hellmut Kirst von gutgewachsenen Beinen,<br />

Gerhart Hauptmann von einer schwarzgeränderten Anzeige, Arnold Zweig von<br />

hochgestellten Vorgesetzten, Heinrich Böll von halbgeöffneten Lidern; unser<br />

Wörterbuch weiß es besser: blau gewürfelt, tief liegend, gut gewachsen, schwarz<br />

gerändert, hoch gestellt, halb geöffnet muß es nach dem Willen der Kultusminister<br />

heißen, und so wird es zitiert. Aus ebensowenig (Enzensberger) wird ebenso wenig, aus<br />

kennengelernt (Jens) kennen gelernt, aus fertiggestellt und selbstgestellte Fragen (G.<br />

Vesper) fertig gestellt, selbst gestellte Fragen. Der Benutzer muß aus den „Belegen“<br />

schließen, daß die verordnete Getrenntschreibung in der deutschen Literatur<br />

wohlbegründet sei – eine geradezu orwellsche Verfälschung der Wirklichkeit.<br />

Das Verfahren betrifft noch andere Gebiete der Sprache. Wer sich kundig machen will,<br />

ob die volksetymologische Neuschreibung Zierrat (mit Anlehnung an Rat) literarisch<br />

belegbar ist, stößt neben Christoph Ransmayr auf Max Frisch, der – als gelernter<br />

Architekt! – diese ignorante Schreibweise benutzt haben soll. In der vorigen Auflage<br />

waren jedoch beide Stellen als Belege für die unter Gebildeten übliche Schreibweise<br />

Zierat angeführt. Hermann Broch werden die Gämsen untergeschoben. Anna Seghers<br />

soll einbläuen geschrieben haben, wie die „Anfänger und Wenigschreiber“, denen der<br />

Reformer Augst mit diesen nunmehr obligatorischen Neuschreibungen zu Hilfe<br />

kommen wollte. Statt mit Hilfe sollen Manfred Hausmann 1932 und alle Zeitungen<br />

ohnehin seit eh und je mithilfe geschrieben haben, der „Spiegel“ gar Tipp im Jahre<br />

1966; es stimmt aber alles nicht. Horst Stern schrieb substantielle Nahrung, daraus<br />

wird substanziell. „Die Unvermeidlichkeit des Bestehenden hatte ihr angst gemacht<br />

(Chr. Wolf, Nachdenken 92)“. Neuauflage: hatte ihr Angst gemacht - der Unterschied<br />

ist deutlich spürbar. Christa Wolf schreibt auch dutzendmal, zitiert wird Dutzend Mal.<br />

Hochhuth: aufs tiefste beschämt, Duden: aufs Tiefste beschämt. Es macht einen<br />

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