REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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warum die Beschreibung des Usus nicht genügen soll, warum also daneben noch eine<br />
staatlich verordnete Norm gesetzt werden muß, von der mit Recht gesagt wird, daß sie<br />
sich nie mit dem Usus decken kann – sonst wäre sie ja offensichtlich überflüssig, weil<br />
man nicht vor<strong>schreiben</strong> muß, was ohnehin geschieht. Die Norm, so heißt es, sei starr<br />
und bleibe daher immer wieder hinter dem dynamischen Usus zurück. Sie müsse<br />
angepaßt werden, und eben dies sei Aufgabe der Kommission. Durch solche<br />
Anpassungen und Neuregelungen werde die Norm wieder stärker an den tatsächlichen<br />
Sprachgebrauch herangeführt. – Allerdings verstößt die Neuregelung in wesentlichen<br />
Teilen gegen diesen Grundsatz, vor allem im Bereich der Groß- und Kleinschreibung,<br />
wo sie der Entwicklung zur Großschreibung von festen Begriffen<br />
(Nominationsstereotypen) wie Erste Hilfe, Schneller Brüter usw. ausdrücklich<br />
„entgegenwirken“ will, und bei der forcierten Getrenntschreibung (s. mit etwas<br />
auseinander setzen, so genannt usw.). Aber auch die Neuschreibungen Tunfisch,<br />
Spagetti usw. entsprechen keiner Veränderung des tatsächlichen Gebrauchs, sondern<br />
sind frei erfunden. Mit welchem Recht der Staat die Bevölkerung überhaupt zu<br />
anderen als den gewohnten Schreibweisen nötigen könnte, bleibt unerörtert.<br />
„Zwingend notwendig in der Rechtschreibung ist überhaupt kein Detail, weil vieles<br />
arbiträr ist; etwas zu ändern ist jedoch immer schwierig, weil die Rechtschreibung<br />
konventionell ist.“ – Mit dieser Aussage setzen sich die Verfasser über die Einsicht<br />
hinweg, die sie in den Jahrzehnten der Vorbereitung gewonnen haben. Der Vorsitzende<br />
der Kommission sprach selbst mehrfach von dem „Irrglauben, die deutsche<br />
Rechtschreibung sei ein einziges Chaos“ (Augst et al. [Hg.]: Zur Neuregelung der<br />
deutschen Orthographie. Tübingen 1997, S. 126 u. ö.). Die wenigen tatsächlich<br />
arbiträren, aus heutiger Sicht durch bloße Konvention geregelten „Details“ (z. B. die<br />
Verteilung mancher Dehnungszeichen oder die Schreibung des Diphthongs ai) sind<br />
jedenfalls kein Freibrief für willkürliche Eingriffe. Was gegen solche Eingriffe spricht<br />
und den Widerstand der Sprachgemeinschaft wachruft, ist daher auch nicht die bloße<br />
Gewohnheit, sondern in den meisten Fällen die intuitive Einsicht in einen<br />
systematischen Zusammenhang, der durch willkürliche Eingriffe zerstört wird. So ist<br />
es zwar in einem banalen Sinn „arbiträr“, daß im Deutschen die sogenannten<br />
Verbzusatz-Konstruktionen (aufgeben, zusammenspielen, freisprechen usw.)<br />
zusammengeschrieben werden; aber da diese Technik nun einmal existiert, steht es<br />
niemandem mehr frei, für heiligsprechen plötzlich Getrenntschreibung zu verordnen,<br />
wie es die Neuregelung will. 115 Die überraschende Bestimmung, Adjektive auf -ig,<br />
-isch oder -lich sollten nicht mehr mit Verben zusammengeschrieben werden und daher<br />
müsse es künftig heilig sprechen (aber weiterhin freisprechen) heißen, ist ihrerseits<br />
völlig willkürlich; sie hat nicht die geringste Unterstützung durch das System der<br />
Sprache und der Orthographie. (Diesen Eingriff nehmen die Reformer in ihrem Bericht<br />
zurück.)<br />
Übrigens sprechen die Verfasser gleich im nächsten Absatz vom „Schriftsystem“, in<br />
das durch die Neuregelung nicht nachhaltig eingegriffen werden solle. Ein System aus<br />
lauter „arbiträren Details“ ist aber ein Widerspruch in sich.<br />
115 Zulässig sollte die Getrenntschreibung – bis auf eine kleine Gruppe von Verbzusätzen,<br />
die praktisch nie getrennt geschrieben werden – allerdings sein, dann aber natürlich<br />
unabhängig von der -ig-Bildung.<br />
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