REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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veränderliches sei. Die pädagogische Bewertung dieses Lobes der Vielfalt überlasse<br />
ich anderen. Der Glaube an die heilsame Kraft des Chaos wird sicher nicht von jedermann<br />
geteilt. Bisher galt die Einheitlichkeit der Rechtschreibung als hoher Wert und<br />
die Beseitigung von Varianten geradezu als Gütesiegel. Sie war der eigentliche Inhalt<br />
der sogenannten „Reform“ zu Beginn des Jahrhunderts (die eben deshalb auch keine<br />
wirkliche Reform war).<br />
Daß die Schriftsteller ohnehin <strong>schreiben</strong>, wie sie wollen, ist natürlich in dieser<br />
Allgemeinheit unzutreffend. Manche Erzähler kennzeichnen die wörtliche Rede nicht<br />
durch Anführungszeichen, andere haben spezielle Normen, z. B. radikale<br />
Kleinschreibung entwickelt, aber im großen und ganzen ist die Schreibweise der<br />
meisten Schriftsteller entweder dudenkonform oder weicht nur in Einzelzügen<br />
systematisch davon ab, setzt also die Norm gerade voraus. Das Bild reiner Willkür, das<br />
manche Kultusminister vom Schreiben der Schriftsteller entwerfen, entspricht<br />
vielleicht dem ebenfalls gern beschworenen Begriff dichterischer Narrenfreiheit, aber<br />
nicht der Wirklichkeit.<br />
II. Die einzelnen Gebiete der deutschen Rechtschreibung<br />
1. Allgemeines<br />
Die Feststellung, daß die deutsche Schreibung keine Lautschrift sei, sondern<br />
„wesentlich mehr Informationen an die Lesenden“ liefere, war gerade der<br />
Ausgangspunkt meiner Kritik. Leider ziehen A&S daraus keine weiteren Konsequenzen<br />
außer bei der zweifelhaften Ausweitung des sog. „Stammprinzips“.<br />
2. Das Stammprinzip<br />
„Die Reform schafft den Wechsel von ss - ß beim selben Wort ab zugunsten des<br />
Stammprinzips.“<br />
Die ss-Schreibung ist nach der Neuregelung grundsätzlich durch die Kürze und<br />
Betontheit des vorhergehenden Vokals bestimmt. Daß dabei oft zugleich der Stamm<br />
optisch bewahrt bleibt, ist eine zufällige Begleiterscheinung. Die naheliegenden<br />
Gegenbeispiele tun A&S mit der seltsamen Phrase ab:<br />
„Natürlich (!) bleibt der Wechsel von ss und ß dann erhalten, wenn die<br />
Vokallänge in einem Wort wechselt, z. B. schließen - schloss - geschlossen.“<br />
Aber das Stammprinzip besteht gerade darin, daß trotz einer lautlichen Alternation<br />
die Schreibweise gleich bleibt (wie zum Beispiel bei der Auslautverhärtung: Kind -<br />
Kinder)! So aber drücken A&S nur das noch einmal aus, was die Kritik eingewandt<br />
hat: daß nämlich die s-Schreibung nicht vom Stammprinzip, sondern vom Lautstand<br />
determiniert ist. 97 Allenfalls für die Schreibweise der Konjugationsformen hasst, musst<br />
97 Dies haben viele Reformbefürworter nicht verstanden, zum Beispiel der hessische<br />
Kultusminister Holzapfel, der die falsche Interpretation u. a. in einem Brief an die<br />
hessischen Bundestagsabgeordneten vom 25. September 1997 (Aktenzeichen VI A -<br />
601/83) verbreiten ließ. Vorbild sind sicher die „Informationen“ der KMK vom<br />
1.12.1995, die dem Fehler die Würde eines offiziellen Dokuments verliehen. Dort steht in<br />
aller Unschuld, die neue ss-Schreibung erhöhe die Wirksamkeit des Stammprinzips, aber<br />
nach langem Vokal schreibe man weiterhin ß! Das ist so, als verkünde ein Mathematiker<br />
die Entdeckung, daß alle ganzen Zahlen ungerade sind – ausgenommen „natürlich“ die<br />
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