29.12.2012 Aufrufe

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

veränderliches sei. Die pädagogische Bewertung dieses Lobes der Vielfalt überlasse<br />

ich anderen. Der Glaube an die heilsame Kraft des Chaos wird sicher nicht von jedermann<br />

geteilt. Bisher galt die Einheitlichkeit der Rechtschreibung als hoher Wert und<br />

die Beseitigung von Varianten geradezu als Gütesiegel. Sie war der eigentliche Inhalt<br />

der sogenannten „Reform“ zu Beginn des Jahrhunderts (die eben deshalb auch keine<br />

wirkliche Reform war).<br />

Daß die Schriftsteller ohnehin <strong>schreiben</strong>, wie sie wollen, ist natürlich in dieser<br />

Allgemeinheit unzutreffend. Manche Erzähler kennzeichnen die wörtliche Rede nicht<br />

durch Anführungszeichen, andere haben spezielle Normen, z. B. radikale<br />

Kleinschreibung entwickelt, aber im großen und ganzen ist die Schreibweise der<br />

meisten Schriftsteller entweder dudenkonform oder weicht nur in Einzelzügen<br />

systematisch davon ab, setzt also die Norm gerade voraus. Das Bild reiner Willkür, das<br />

manche Kultusminister vom Schreiben der Schriftsteller entwerfen, entspricht<br />

vielleicht dem ebenfalls gern beschworenen Begriff dichterischer Narrenfreiheit, aber<br />

nicht der Wirklichkeit.<br />

II. Die einzelnen Gebiete der deutschen Rechtschreibung<br />

1. Allgemeines<br />

Die Feststellung, daß die deutsche Schreibung keine Lautschrift sei, sondern<br />

„wesentlich mehr Informationen an die Lesenden“ liefere, war gerade der<br />

Ausgangspunkt meiner Kritik. Leider ziehen A&S daraus keine weiteren Konsequenzen<br />

außer bei der zweifelhaften Ausweitung des sog. „Stammprinzips“.<br />

2. Das Stammprinzip<br />

„Die Reform schafft den Wechsel von ss - ß beim selben Wort ab zugunsten des<br />

Stammprinzips.“<br />

Die ss-Schreibung ist nach der Neuregelung grundsätzlich durch die Kürze und<br />

Betontheit des vorhergehenden Vokals bestimmt. Daß dabei oft zugleich der Stamm<br />

optisch bewahrt bleibt, ist eine zufällige Begleiterscheinung. Die naheliegenden<br />

Gegenbeispiele tun A&S mit der seltsamen Phrase ab:<br />

„Natürlich (!) bleibt der Wechsel von ss und ß dann erhalten, wenn die<br />

Vokallänge in einem Wort wechselt, z. B. schließen - schloss - geschlossen.“<br />

Aber das Stammprinzip besteht gerade darin, daß trotz einer lautlichen Alternation<br />

die Schreibweise gleich bleibt (wie zum Beispiel bei der Auslautverhärtung: Kind -<br />

Kinder)! So aber drücken A&S nur das noch einmal aus, was die Kritik eingewandt<br />

hat: daß nämlich die s-Schreibung nicht vom Stammprinzip, sondern vom Lautstand<br />

determiniert ist. 97 Allenfalls für die Schreibweise der Konjugationsformen hasst, musst<br />

97 Dies haben viele Reformbefürworter nicht verstanden, zum Beispiel der hessische<br />

Kultusminister Holzapfel, der die falsche Interpretation u. a. in einem Brief an die<br />

hessischen Bundestagsabgeordneten vom 25. September 1997 (Aktenzeichen VI A -<br />

601/83) verbreiten ließ. Vorbild sind sicher die „Informationen“ der KMK vom<br />

1.12.1995, die dem Fehler die Würde eines offiziellen Dokuments verliehen. Dort steht in<br />

aller Unschuld, die neue ss-Schreibung erhöhe die Wirksamkeit des Stammprinzips, aber<br />

nach langem Vokal schreibe man weiterhin ß! Das ist so, als verkünde ein Mathematiker<br />

die Entdeckung, daß alle ganzen Zahlen ungerade sind – ausgenommen „natürlich“ die<br />

107

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!