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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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Jahren von allen übrigen Germanisten belächelt) Gämse, Stängel (Glimmstängel),<br />

Zierrat, schnäuzen usw. hätten nicht die geringste Chance, wenn sie nicht variantenlos<br />

vorgeschrieben würden. Ja, die ganze Neuregelung wäre, wenn man sie lediglich als<br />

Angebot herausbrächte und der Bevölkerung eine wirklich freie Wahl ermöglichte, bis<br />

auf Kleinigkeiten wie die st-Trennung wahrscheinlich bald wieder vergessen. Zur<br />

freien Wahl würde natürlich gehören, daß die herkömmliche Schreibung weder durch<br />

den Rotstift noch – wie in Bayern verordnet – durch den Grünstift des Lehrers und<br />

durch ein ebenso unberechtigtes wie lächerliches „überholt“ diskriminiert würde und<br />

daß auch die Lehrer nicht per Erlaß gezwungen würden, nur noch die Neuschreibung<br />

zu verwenden. So heißt es zum Beispiel in einem Runderlaß des schleswigholsteinischen<br />

Kultusministeriums vom 5.11.1996: „Generell werden überholte Regeln<br />

und Schreibungen nicht mehr eingeführt und nicht mehr geübt.“ Diese „überholten“<br />

Schreibungen waren die amtlich gültigen! Von einem fairen Test der Neuregelung auf<br />

gesellschaftliche Akzeptanz, wie Löwer ihn zu erkennen meint, kann unter solchen<br />

Umständen keine Rede sein.<br />

Die Neuregelung setzt Willkür und Beliebigkeit an die Stelle längst festgewordener<br />

Schreibgewohnheiten. Sie läßt zwar oft die Wahl, aber niemand kann vorhersehen, wo.<br />

Zwischen zulasten und zu Lasten, zugrunde und zu Grunde soll man wählen können,<br />

aber nicht zwischen zugute und zu Gute (wie die „Woche“ irrtümlich annimmt),<br />

zuliebe und zu Liebe. „Nachschlagen!“ heißt die Parole. Und für dieses mutwillig<br />

erzeugte Durcheinander findet Löwer die pathetischen Worte, die Reform trage „die<br />

gesellschaftliche Freiheit in der Schreibung ein Stück weit in die Schulen und den<br />

Amtsbetrieb“!<br />

Wahr ist vielmehr, daß die Reformer Beliebigkeitsklauseln einfügen, wo sie selbst<br />

keine Regel aufzustellen vermögen. Sie wissen nicht, was der strukturelle Unterschied<br />

zwischen kennenlernen und schwimmen lernen ist, und behaupten daher ungeniert, ein<br />

formales Kriterium zur Unterscheidung sei hier nicht auffindbar, weshalb beides<br />

gleichermaßen getrennt geschrieben werden müsse. Das ist, wie zuerst Peter Eisenberg<br />

148 gezeigt hat, grober Unfug und ein bedenkliches Zeugnis fachlichen Versagens.<br />

Von dieser Art sind Dutzende sinnloser und falscher Behauptungen und darauf<br />

gegründeter neuer Regeln. Der Geschäftsführer der Rechtschreibkommission weiß<br />

nicht, daß zwischen artig grüßen und übrigbleiben keine „Analogie“ möglich und die<br />

damit gerechtfertigte neue Getrenntschreibung des letzteren völlig willkürlich ist. Die<br />

Reformer wissen nicht, daß leid in leid tun kein Substantiv ist, ebenso wie feind in<br />

jemandem feind sein. Dieser schockierende Dilettantismus der Reform kommt bei<br />

Löwer gar nicht in den Blick.<br />

Statt dessen lenkt er die Diskussion immer wieder auf Unwesentliches, ganz im Stil<br />

laienhafter Reformkritiker, die sich endlos über neue Einzelwortschreibungen wie die<br />

allerdings lächerlichen Spagetti mit Tunfisch erregen können und dabei die wirklich<br />

grundstürzenden Maßnahmen im Bereich der Regelveränderung übersehen. Ich habe<br />

andernorts nachgewiesen, daß Rad fahren, in Bezug auf usw. auch nach bisheriger<br />

Rechtschreibung durchaus nicht falsch waren, da es sich bei den dudenkonformeren<br />

Schreibweisen lediglich um Lizenzen handelte. Löwer faßt leider nicht die Möglichkeit<br />

ins Auge, daß eine sinngemäße liberale Interpretation des Duden unter<br />

Berücksichtigung des tatsächlichen Sprachgebrauchs (und bei gleichzeitiger<br />

Aufhebung des Dudenprivilegs) unsere orthographischen Probleme auch ohne<br />

148 „Praxis Deutsch“ 1995.<br />

176

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