29.12.2012 Aufrufe

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

herangezogen. Das ist mit Recht kritisiert worden, nicht nur von den Reformern.<br />

Allerdings nimmt das Duden-Regelwerk anders als das Wörterverzeichnis und im<br />

Widerspruch zu der Darstellung bei A&S gerade nicht auf die übertragene Bedeutung<br />

Bezug, sondern auf das Entstehen eines „neuen Begriffs, den die bloße Nebeneinanderstellung<br />

nicht ausdrückt“ (R 205). Das ist eine viel weitere und besser deutbare<br />

Perspektive. Bei frei sprechen/freisprechen, sauber halten/sauberhalten usw. kommt es<br />

meist auf die Unterscheidung zwischen freiem Adverbial und Verbzusatz an – eine tief<br />

in der deutschen Sprachstruktur angelegte Unterscheidung, deren visuelle<br />

Entsprechung sehr sinnvoll ist.<br />

So erklärt es sich auch, daß der Duden „eine beträchtliche Anzahl zulässiger alternativer<br />

Schreibungen“ wie eng befreundet/engbefreundet zuließ, wie A&S bemerken.<br />

Es geht nicht darum, daß „manche Kritiker [das] nicht wahrhaben wollen“; es geht<br />

überhaupt nicht um eine Schwäche der gültigen Regelung, sondern um eine notwendige<br />

Folge des Zusammenspiels von Grammatik und Phraseologisierung bzw.<br />

Wortbildung. Man muß die Natur der Sprache schon sehr verkennen, um der geltenden<br />

Orthographie hieraus einen Vorwurf zu machen.<br />

Die Reformer schließen sich grundsätzlich der rigidesten möglichen Auslegung des<br />

Dudens an und stellen dieser ultraorthodoxen Deutung dann ihre „liberale“ Neuregelung<br />

entgegen, die – wie anderswo gezeigt worden ist – das Kind mit dem Bade<br />

ausschüttet. Ich habe im Gegenteil vorgeschlagen, den Duden in der liberalsten<br />

möglichen Weise auszulegen und erst dann nach substantiellen Verbesserungsmöglichkeiten<br />

zu fragen. Dabei verschwindet allerdings fast jeder Handlungsbedarf,<br />

eine Reform erweist sich als überflüssig.<br />

A&S führen Paare wie wieder kommen (‚noch einmal‘) und wiederkommen (,zurückkommen‘)<br />

an, schweigen sich aber darüber aus, daß es gerade auf der Grundlage<br />

solcher Paraphrasen zu der offenbar falschen Schlußfolgerung aller neuen Wörterbücher<br />

kommen mußte, wiedersehen sei nunmehr getrennt zu <strong>schreiben</strong>. 99 Die<br />

Paraphrase noch einmal vs. zurück scheint den Irrtum aufs neue zu rechtfertigen, denn<br />

wiedersehen liegt immerhin näher bei „noch einmal sehen“ als bei „zurücksehen“. Statt<br />

dessen sagen A&S hier so zutreffend wie überraschend, die Wortpaare seien „durch<br />

Betonung zu unterscheiden“. Im amtlichen Regelwerk ist die Betonung bekanntlich<br />

kein Kriterium, ihre Heranziehung wird sogar in geradezu auffälliger Weise<br />

99 Der Stellvertretende Vorsitzende der KMK, Hans Joachim Meyer (Philologe von Beruf<br />

und derzeit sächsischer Kultusminister) erwies sich in seiner Rede vor dem Deutschen<br />

Bundestag am 26.3.1998 als der letzte, der noch die Fehlinterpretation der ersten Stunde<br />

vertritt: Die Neuregelung räume mit der „Marotte“ auf, „daß Begriffe und Vorstellungen,<br />

die durch mehr als ein Wort ausgedrückt werden, zusammengeschrieben werden müssen“<br />

(was in dieser Form natürlich gar nicht zutrifft). „Dafür gibt es überhaupt keinen<br />

zwingenden Grund. Ob ich nun sage ,Wir müssen uns bald wiedersehen‘ oder ,Wir sehen<br />

uns bald wieder‘: In beiden Fällen drücken die beiden Wörter ,wieder‘ und ,sehen‘ die<br />

gleiche Vorstellung aus. Aber nur in einem Fall, nämlich wenn die beiden Wörter<br />

unmittelbar nebeneinander stehen, muß man sie zusammen<strong>schreiben</strong>. Dafür gibt es<br />

überhaupt keinen Grund.“ – Diese und die weiteren Ausführungen lassen eine solche<br />

Unkenntnis sowohl der deutschen Grammatik als auch der Neuregelung erkennen, daß<br />

sich jeder Kommentar erübrigt. – Das Wort „Marotte“ scheint Meyer aus dem<br />

Zeitungsartikel Hermann Unterstögers zur Wiener Abschlußkonferenz (SZ vom<br />

25.11.1994) entnommen zu haben.<br />

111

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!