REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Dadurch werden – abgesehen von den großen Mengen veränderter Schreibungen –<br />
zahlreiche Gruppen, die bisher einfach nebeneinanderstanden, nunmehr zu<br />
Ausnahmen. Wenn die Reformer behaupten, die „grundsätzliche Richtung der<br />
Neuregelung“ ändere sich nicht, so bekunden sie damit allenfalls ihren unveränderten<br />
Willen, etwas gegen die von der Sprachgemeinschaft für richtig gehaltene<br />
Zusammenschreibung zu unternehmen. Mit diesem Eingriff sind sie jedoch gründlich<br />
gescheitert.<br />
Die Einleitung zu diesem Teil des Berichts ist ein so bemerkenswertes Stück deutscher<br />
Prosa, daß die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ es sich nicht nehmen ließ, ein kurzes<br />
Zitat daraus als „Fundsache“ zu präsentieren (15.1.1998):<br />
„Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung handelt es sich darum, zwei (oder<br />
mehr) nebeneinander gestellte sprachliche Einheiten als lexikalisch eigenständige<br />
Formen oder als gemeinsame Einheit grafisch zu markieren. Übergeordnete<br />
Einheiten können entweder als kontextfreie oder als kontextsensitive<br />
Wortgruppen erscheinen. Die Selbständigkeit von Wörtern bzw. Lexemen kann<br />
durch diachrone Prozesse (Lexikalisierung mit daraus folgender Univerbierung)<br />
und synchrone Prozesse (Inkorporation) aufgehoben werden. Auch bei<br />
Inkorporation wird der Wortgruppenstatus erst durch Lexikalisierung<br />
(Phraseologisierung) erreicht, sodass sich letztlich auch hier diachrone Prozesse<br />
auswirken. Diese Prozesse machen sich auch in der Betonung bemerkbar<br />
(Unbetontheit von autosemantischen Elementen).“<br />
Was mag das alles bedeuten? 117 Was sind „lexikalisch eigenständige Formen“? Wieso<br />
wird der Wortgruppenstatus – was immer das sein mag – erst durch „Lexikalisierung<br />
(Phraseologisierung)“ und damit historisch erreicht? (In der Neuregelung ist ständig<br />
von „Wortgruppen“ die Rede, die keineswegs lexikalisiert oder phraseologisiert sind.)<br />
Ist blaustreichen/blau streichen (s. u.) eine „Wortgruppe“, ist es „diachronisch“<br />
„lexikalisiert“, „phraseologisiert“, „univerbiert“, „inkorporiert“, „autosemantisch“,<br />
„kontextfrei“, „kontextsensitiv“ – und wird es darum nun nach Belieben getrennt oder<br />
zusammengeschrieben?<br />
Der Text fährt fort:<br />
„Für die Normierung der Rechtschreibung muss die Frage entschieden werden,<br />
ob sich die Rechtschreibnorm an der morphologischen Form der Wörter<br />
orientiert, die man aus einem Wörterbuch entnehmen kann (tendenzielle<br />
Getrenntschreibung), oder ob semantische Verschiebungen aus der Funktion<br />
innerhalb von Wortgruppen und aus metaphorischen Gebrauchsweisen (tendenzielle<br />
Zusammenschreibung) berücksichtigt werden.<br />
In der Geschichte der deutschen Rechtschreibung gab es verschiedene Versuche,<br />
Wortgruppenphänomene durch Zusammenschreibung zu bezeichnen. Wegen der<br />
Tatsache, dass diachrone Prozesse grundsätzlich nicht abgeschlossen sind, wenn<br />
sie auf universellen Gegebenheiten des Sprachwandels beruhen, ist ein unklarer<br />
und zum Teil widersprüchlicher Schreibgebrauch entstanden, der zu einem<br />
großen Teil nur im Wörterbuch als Einzelfestlegung normiert wurde.“<br />
117 Später wird die KMK die „Erläuterungen zur einheitlichen Auslegung und Anwendung<br />
des neuen Regelwerks sehr hilfreich“ finden und insbesondere die Kommentare loben,<br />
„die dazu dienen, die dem Regelwerk zugrunde liegenden Prinzipien einer breiteren<br />
Öffentlichkeit verständlich zu machen“!<br />
129