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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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verbreiteten Unwissenheit 68 leichtes Spiel hat, beweist Dieter E. Zimmer, der in der<br />

„ZEIT“ mehrfach etwas behauptet hat, was sich in einer seiner Versionen so liest:<br />

„Die geltende Orthographie (...) ein Beamtenstreich von 1901.“ (ZEIT vom<br />

5.7.1996)<br />

Der Verband der Schulbuchverlage versteigt sich zu der Behauptung:<br />

„In Deutschland hat es bereits 1880 mit dem Erlass der ,Preussischen Regeln‘<br />

und 1901 zwei große Orthographiereformen gegeben.“ (Stellungnahme zur<br />

Verfassungsbeschwerde Elsner u.a. vom 10.11.1997)<br />

Der Deutschdidaktiker Wolfgang Menzel (zugleich Verfasser von Rechtschreibbüchern)<br />

will in einem Aufsatz „Vorurteile ausräumen, Fehleinschätzungen beseitigen“<br />

(in Eroms/Munske [Hg.] 1997). Nachdem er kräftig auf die Ignoranz der<br />

Reformkritiker geschimpft hat, gibt er folgendes zum besten:<br />

„Von den rund 800 Wörtern der 1809 von Johann Peter Hebel verfassten<br />

Kalendergeschichte ,Kannitverstan‘ haben sich in ihrer Schreibung mit der<br />

Reform vor fast hundert Jahren genau 40 Wörter verändert, darüber hinaus drei<br />

Kommas. Dieser Text hat also damals 43 Veränderungen erfahren (wie Armuth,<br />

Erkenntniß, gieng, nemlich, solcherley, Todtenkleid, zwey usw.).“ (S. 138)<br />

Der erfahrene Leser stutzt: Das sollen die Schreibweisen um 1900 gewesen sein? Man<br />

nimmt ein „Lesebuch für Höhere Mädchenschulen“ zur Hand, erschienen zu Nürnberg<br />

1901, also unmittelbar vor der angeblichen Rechtschreibreform, und liest:<br />

Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen oder Gundelfingen<br />

so gut als in Amsterdam, Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen<br />

Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal,<br />

wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen. Aber auf<br />

dem seltsamsten Umwege kam ein deutscher Handwerksbursche in Amsterdam<br />

durch den Irrtum zur Wahrheit und zu ihrer Erkenntnis. Denn als er in diese<br />

große und reiche Handelsstadt voll prächtiger Häuser, wogender Schiffe und<br />

geschäftiger Menschen gekommen war, fiel ihm sogleich ein großes und schönes<br />

Haus in die Augen, wie er auf seiner ganzen Wanderschaft von Tuttlingen bis<br />

nach Amsterdam noch keines erlebt hatte. Lange betrachtete er mit<br />

Verwunderung dies kostbare Gebäude, die sechs Kamine auf dem Dach, die<br />

schönen Gesimse und die hohen Fenster, größer als an des Vaters Haus daheim<br />

die Thür. (usw.)<br />

Einmal Thür und einmal Thräne, sonst aber genau die heute übliche Orthographie!<br />

Und sogar dieses th war schon in den siebziger Jahren in zahllosen Büchern nicht mehr<br />

zu finden gewesen und zum Beispiel aus der bayerischen Schulorthographie bis auf<br />

wenige Ausnahmen längst gestrichen.<br />

68 Während der Debatte zur Rechtschreibreform im Bayerischen Landtag am 27.10.1995 erklärte<br />

ein Abgeordneter: „Mit dieser Haltung hätten wir aber auch 1901 keine Rechtschreibreform<br />

geschafft, und viele Dinge würden noch so geschrieben wie im vorigen<br />

Jahrhundert.“<br />

68

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