REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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sprache geschaffen hat. Augst hat jedoch nicht das Ziel, die wirklichen, also<br />
historischen Wortbildungsbeziehungen und Bedeutungsentwicklungen zur Grundlage<br />
seines Lexikons machen, sondern die im Kopf der heutigen Sprecher bestehenden, also<br />
gegebenenfalls auch „volksetymologischen“ Motivationen. Diese Neigung, den<br />
Wortschatz unter Umständen auch durch historisch unzutreffende Beziehungen neu zu<br />
organisieren, nennt Augst „synchrone etymologische Kompetenz“. Motivierung,<br />
Demotivierung und Neumotivierung der sprachlichen Zeichen verändern diese Zeichen<br />
selbst und können schon deshalb aus der Geschichte der Sprache nicht gestrichen<br />
werden. Hebamme, Hängematte, röhren usw. sind bekannte Beispiele. Augst dehnt das<br />
Prinzip auf gegenwärtige assoziative Beziehungen aus, die noch nicht zu einer<br />
Umgestaltung der Formen geführt haben. Der Laie kennt viele etymologische<br />
Beziehungen nicht, dafür stiftet er andere, die von der wissenschaftlichen Etymologie<br />
nicht anerkannt werden. Dies alles in einem Buch zu dokumentieren, wäre eine<br />
reizvolle, aber schwierige Aufgabe, nicht zuletzt deshalb, weil die Wörter einerseits in<br />
sprachwirksame assoziative Strukturen eingebettet, andererseits aber auch Gegenstand<br />
einer naiven Reflexion über ihre Herkunft sind. Im „synchronen“ Bewußtsein ist<br />
nämlich stets auch der Gedanke der Geschichtlichkeit von Sprache enthalten. Ja, die<br />
meisten Sprecher dürften heute wissen, daß es etymologisches Expertenwissen gibt,<br />
vor dem ihre laienhaften Vorstellungen nicht bestehen können. Diese Komplizierung<br />
der Lage hat Augst nicht einmal ansatzweise bedacht.<br />
Plan und Ausführung des Werkes enthalten außerdem einen fundamentalen<br />
Widerspruch. Wenn die semantischen Zusammenhänge so dargestellt werden, wie sie<br />
im Kopf des Sprechers bestehen, dann müßte dasselbe auch für die Bedeutungen selbst<br />
unternommen werden. Die von Augst exzerpierten Wörterbücher sind aber nicht mit<br />
dem Anspruch aufgetreten, die laienhaften Vorstellungen von der Bedeutung der<br />
Wörter zu dokumentieren. In der Einleitung schreibt Augst unter dem Titel „Welche<br />
Informationen erhalten Sie zu jedem Wort?“: „Das Wortfamilienwörterbuch enthält in<br />
knapper Form alle wesentlichen Informationen, die ein normales Wörterbuch (z. B.<br />
DUW, BROCKH, WAHRIG) auch enthält.“ (S. XXI) (Seltsamerweise ist ausgerechnet<br />
das HDG nicht genannt, dessen Inhalt das Wörterbuch von G. Augst „in knapper<br />
Form“, d. h. leicht gekürzt wiedergibt!). Gerade dies widerspricht dem Konzept. Man<br />
kann dann gleich im HDG oder einem der genannten Wörterbücher nachschlagen, wo<br />
man wegen der strikt alphabetischen Anordnung auch leichter zum Ziel kommt. Das<br />
HDG erklärt auch Fachausdrücke und weiß überhaupt manches, was der normale<br />
Sprecher nicht weiß, zum Beispiel daß Holunder ein „Geißblattgewächs“ ist, Glyzerin<br />
„eine hygroskopische Flüssigkeit“ und der Sinus eine des näheren beschriebene<br />
Winkelfunktion ... (Andereseits begnügt sich Augst manchmal anders als seine<br />
Vorlagen mit überraschend pauschalen Definitionen, etwa unter Gnu: ,eine Tierart‘<br />
oder Planet: ,ein Himmelskörper‘.)<br />
So unklar dem Bearbeiter seine eigene Idee offenbar ist, so willkürlich sind die Zutaten,<br />
die er unterderhand beimischt. Augst geht zum Beispiel von der undiskutierten<br />
Annahme aus, daß jede Wortfamilie normalerweise genau ein „Kernwort“ besitze und<br />
die weitere Struktur „hierarchisch“ sei. Schon im Einbanddeckel wird postuliert: „Das<br />
Wortfamilienwörterbuch bildet durch seinen Aufbau die Struktur der Wortfamilien ab.<br />
Jede Wortfamilie hat ein Kernwort“ usw. Diese Forderung entspringt mehr dem<br />
Wunsch nach einer wörterbuchtauglichen einfachen Darstellung als der Untersuchung<br />
des Gegenstandes. Sie führt zu sachfremden Überlegungen wie etwa unter Gunst,<br />
gönnen:<br />
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