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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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Das Bündnis mit dem Staat wird auch damit gerechtfertigt, daß der Staat nun einmal<br />

die Regelungskompetenz besitze und daher als einzige Instanz die Möglichkeit habe,<br />

die geltende Rechtschreibung zu ändern. Zur Stützung dieser Ansicht beruft man sich<br />

gern auf die Tatsache, daß unsere heutige Einheitsorthographie auf staatlichen<br />

Beschlüssen von 1902 beruhe. Das ist allerdings eine zweideutige Feststellung. Denn<br />

nicht die Orthographie, sondern deren Einheit beruht – wenigstens in sehr<br />

bescheidenem Maße – auf staatlichen Beschlüssen. Der Staat hat die Rechtschreibung<br />

nicht per Erlaß geschaffen, sondern die Geltung einer vorgegebenen Rechtschreibordnung<br />

für gewisse Lebensbereiche, vor allem die Schule, festgelegt. Er kann dies<br />

aufs neue tun – aber nur wie bisher auf der Grundlage der allgemein üblichen<br />

Rechtschreibung, nicht durch Erfindung und Verordnung völlig neuer Schreibweisen.<br />

Das betrifft nicht nur Einzelwortschreibungen, die nie ein Mensch gebraucht hat<br />

(passee, Tunfisch, Spagetti, platzieren), sondern auch und vor allem eine völlige<br />

Neuorientierung im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Groß- und<br />

Kleinschreibung und der Zeichensetzung. Der Rostocker Reformer Dieter Nerius baut<br />

ganz auf die Staatsmacht:<br />

„Nach der Herausbildung einer für die ganze Sprachgemeinschaft einheitlichen<br />

Orthographie (...) kann nicht mehr wie vorher von einer mehr oder weniger freien<br />

Entwicklung der Schreibung gesprochen werden, da die umfassend ausgeprägte<br />

und offiziell verbindliche Norm das nicht zuläßt. Veränderungen einzelner<br />

Schreibungen können sich zwar auch weiterhin im Sprachgebrauch vollziehen,<br />

aber nur in den Bereichen, die nicht vollständig kodifiziert sind oder in denen die<br />

Kodifizierung einen gewissen Spielraum zuläßt, wie etwa bei der<br />

Fremdwortschreibung oder in der Getrennt- und Zusammenschreibung. Eine<br />

Veränderung der Orthographie in den eindeutig kodifizierten Bereichen ist jedoch<br />

jetzt nur noch durch eine Änderung der kodifizierten Norm, eine Orthographiereform,<br />

möglich, die durch dazu bevollmächtigte Gremien oder<br />

Personen vorzubereiten und durch entsprechende Verfügungen staatlicher Organe<br />

durchzusetzen wäre.“ 25<br />

All dies gilt natürlich zunächst einmal nur unter der Voraussetzung, daß man überhaupt<br />

die Staatszuständigkeit für die Orthographie anerkennt und nichtobrigkeitliche<br />

Lösungen gar nicht erst ins Auge faßt. Die Tatsachen sprechen aber eine andere<br />

Sprache. Da die staatliche Norm ohnehin – wie gerade die Reformer zur Beruhigung<br />

der Bevölkerung unermüdlich betonen – nur für jene Bereiche verbindlich sein soll, für<br />

die der Staat „Regelungskompetenz“ beansprucht, können sich in den anderen<br />

Bereichen, wo sie allenfalls „Vorbildcharakter“ besitzt, durchaus sprachlicher Wandel<br />

und orthographische Neuerungen entfalten. Dabei werden sich die grundsätzlichen<br />

Entscheidungen selten ändern; denn warum sollte die Sprachgemeinschaft etwas<br />

aufgeben, was sich bewährt hat? Aber denken wir an die Binnengroßbuchstaben in<br />

Komposita (eigentlich die Wiederentdeckung einer barocken Schreibmöglichkeit). Sie<br />

ist wesentlich sogar von der Bundesbahn bzw. Deutschen Bahn AG gefördert worden<br />

(BahnCard usw., vgl. auch die Post mit FreeWay und PackSet, die Sparkassen mit<br />

GeldKarte usw.) und verstößt gegen Grundsätze der Norm in einem vollständig<br />

Hervorhebungen hinzugefügt.<br />

25 Dieter Nerius et al.: Deutsche Orthographie. Berlin 1989, S. 32f. – Fast wortgleich auch<br />

schon in seinem einflußreichen programmatischen Werk von 1975, S. 48, ferner in<br />

Nerius/Scharnhorst (Hg.) 1980, S. 51; Mitt. d. Dt. Germanistenverbandes 4/1997;<br />

Eroms/Munske (Hg.) 1997, S. 157 und an vielen anderen Stellen.<br />

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