REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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Sprachgemeinschaft zur Zusammenschreibung „entgegenzuwirken“, also das zu<br />
Regelnde zugleich durchgreifend zu verändern versuchte – und ist damit gescheitert.<br />
Was der damalige Dudenchef über die sprachpflegerische Funktion des Duden schrieb,<br />
zeugt von erheblicher Selbstüberschätzung, zumal es sich weit über die<br />
Rechtschreibung hinaus auf Wortbestand und Grammatik bezieht. Wann wäre aber je<br />
ein Wort in den Sprachgebrauch aufgenommen oder aus ihm ausgeschieden worden,<br />
weil es im Duden stand oder nicht stand? Welche grammatische Norm ist durch die<br />
Dudengrammatik beeinflußt worden? Solche Gedankenspiele finden doch nur in<br />
schulmeisterlichen Leserbriefen bornierter Sprachrichter statt, die den Duden mit der<br />
deutschen Sprache gleichsetzen: Was nicht im Duden steht, existiert nicht.<br />
Gänzlich verfehlt ist Löwers Argument, die Schreibregeln des Duden<br />
„dürften in ihrer Gesamtheit schon deshalb nicht mehr im Volk gewachsen sein<br />
können, weil sie nach soweit ersichtlich allgemeiner sachverständiger Meinung<br />
auch von ,Fachleuten‘ nicht mehr beherrscht werden.“<br />
Von vergleichbarer Qualität wäre die Behauptung, das „Große Wörterbuch der<br />
deutschen Sprache“ könne nicht den Wortschatz der deutschen Sprache dokumentieren,<br />
weil niemand alle diese Wörter kenne, das Fremdwörterbuch aus den nämlichen<br />
Gründen nicht die tatsächlich vorgefundenen Fremdwörter usw.<br />
Zunächst einmal: Die ausdrücklich in allgemeiner Form dargestellten orthographischen<br />
Regeln sind im Duden von 1991 unter 171 „Richtlinien“ gebracht, die allerdings<br />
größtenteils eine ganze Reihe von Unterregeln abdecken. Dieses eigentliche<br />
Regelwerk ist gewiß nicht optimal gelungen, aber das hängt mit seinem<br />
Doppelcharakter zusammen: Es soll einerseits allgemeinverständlich und von jeder<br />
Sekretärin benutzbar sein, andererseits aber eine vollständige und wissenschaftlich<br />
akzeptable Beschreibung alles dessen, was sich überhaupt auf allgemeine Regeln<br />
bringen läßt. Vieles ist durchaus gelungen; insgesamt läßt sich dieselbe<br />
Regelungsmaterie m. E. wissenschaftlich befriedigender darstellen. Nun zerfällt aber<br />
die deutsche Gesamtsprache in zahlreiche Teilsprachen (im Sinne der „linguistischen<br />
Arbeitsteilung“), und niemand „beherrscht“ sie alle. Eine solche Forderung wäre von<br />
vornherein unrealistisch, denn die Gesamtsprache stellt schon rein begrifflich<br />
niemandes Kompetenz dar, sondern eine abstrakte Größe, die nur in Wörterbüchern<br />
usw. aufgehoben ist. So muß man nun auch das Gesamtregelwerk der deutschen<br />
Orthographie verstehen. Dabei ist es durchaus denkbar, noch weit über das<br />
Dudenregelwerk mit seinen 171 Adressen hinauszugehen. Beispielsweise ist allein die<br />
Zeichensetzung von Renate Baudusch noch viel detaillierter dargestellt worden als im<br />
Duden; sie kommt auf 227 Regeln, Dieter Berger gar auf 338. Auch diese vielen<br />
Regeln sind nicht erfunden, sondern dem tatsächlichen Schreibusus entnommen und<br />
mit Originaltexten belegt. Ähnlich verhält es sich mit der Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
141 usw. Kurz gesagt: Die orthographischen Tatsachen der Gesamtsprache<br />
sind zu komplex, als daß der einzelne sie „beherrschen“ könnte; das muß er aber auch<br />
gar nicht, und es wäre ein Grundirrtum (und ein pädagogischer Kunstfehler), das<br />
Dudenregelwerk in diesem Sinne auszulegen.<br />
Noch deutlicher wird die Fehlerhaftigkeit des Löwerschen Gedankengangs, wenn man<br />
das Wörterverzeichnis ins Auge faßt. Allerdings käme eben deshalb auch niemand auf<br />
141 Herberg, Dieter/Baudusch, Renate: Getrennt oder zusammen? Ratgeber zu einem<br />
schwierigen Rechtschreibkapitel. Leipzig 1989.<br />
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