REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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„Gunst hat eine schwierige Semantik. Manche Informanten sind bzgl. des Kopfes<br />
der Wortfamilie unentschieden, d. h. manche nennen Gunst, andere gönnen als<br />
Kernwort.“<br />
Hier hat offenbar der Interviewer seinen Probanden erst eingeredet, daß die<br />
Wortfamilie ein „Kernwort“ haben muß, denn von sich aus dürften die Sprecher eine<br />
solche Notwendigkeit nicht gesehen haben. Ähnlich unter fatal:<br />
„Wer das bildungsspr. Fatum kennt, wird die Wf. von dort her aufbauen.“<br />
Aber es gibt keine Notwendigkeit, Wortfamilien von einem bestimmten Wort her<br />
„aufzubauen“; der bloße Zusammenhang von Netzen ohne Mittelpunkt genügt.<br />
Die erste Tatsache, mit der sich das Projekt eines laienlinguistischen Wörterbuchs konfrontiert<br />
sieht, ist die Ungleichartigkeit der Sprecher hinsichtlich ihrer Sprachkenntnis,<br />
Belesenheit und Reflexionsfähigkeit. Es gibt nicht „die“ synchronische etymologische<br />
Kompetenz. Der Verfasser spielt das Informantenproblem herunter, indem er darauf<br />
verweist, daß die meisten Zusammenhänge ohnehin nicht durch Befragung ermittelt,<br />
sondern von ihm selbst hergestellt worden sind:<br />
„(...) im Großen und Ganzen spiegelt dieses Wörterbuch die Ordnung nach<br />
Wortfamilien so wider, wie wir sie als (re)konstruierende Wörterbuchautoren dem<br />
'normalen' Sprachteilhaber idealtypisch unterstellen.“ (S. X, vgl. auch S. XIX).<br />
Der normale Sprachteilhaber, auf dessen „Laien“-Status großer Wert gelegt wird, ist<br />
also, schlichter gesagt, zunächst einmal eine Erfindung des Verfassers, keine<br />
empirische Größe. Der zitierte Satz ist im Grunde eine Ungeheuerlichkeit: das<br />
Programm einer spekulativen Laien- und Psycholinguistik.<br />
Augst ist es nie gelungen, den „Laien“ in widerspruchsfreier, empirisch gehaltvoller<br />
Weise zu definieren. Laut Vorwort ist es ein Mensch, der „nicht auf besondere<br />
fachliche, fremdsprachliche oder gar sprachwissenschaftliche Kenntnisse zurückgreifen<br />
kann.“ – Zwar ist diese Formulierung nicht sehr klar, aber die weitere Praxis<br />
zeigt, daß der Laie keine Berufsausbildung und keine Fremdsprachenkenntnisse,<br />
folglich auch keine weiterführende Schulbildung besitzen darf. Diese von Augst<br />
ersonnenen absoluten Hinterwäldler gibt es im deutschen Sprachraum praktisch nicht,<br />
und wenn man doch irgendwo einen auftreiben sollte – warum muß man ihn zum<br />
Richter über die „natürliche“ Organisation des deutschen Wortschatzes machen? Da<br />
der Laie ausdrücklich keine sprachwissenschaftlichen Kenntnisse haben soll,<br />
andererseits aber der Begriff der „Wortfamilie“ – wie auch immer man ihn umschreibt<br />
– ein sprachwissenschaftlicher Begriff ist, wüßte man gern, mit welcher Frage die<br />
Informanten eigentlich konfrontiert worden sind und wie sie die Frage verstanden<br />
haben. Zum Beispiel ist fressen ohne weiteres unter essen gebracht, aber die Ableitung<br />
dürfte sogar gebildeten Sprechern unklar sein. Wenn sie dennoch dieser Zuordnung<br />
beitreten, so geschieht es vielleicht, weil die beiden Verben fast dasselbe bedeuten und<br />
sich außerdem verdächtig gut reimen. Sie werden also wohl irgendwie<br />
zusammengehören. An einer anderen Stelle sagt Augst: „Der normale Sprachteilhaber<br />
bringt Zoo u. Zoologie zusammen, ohne den genauen Bezug angeben zu können.“ Aber<br />
was erwartet Augst vom Laien eigentlich – etwa ein Hantieren mit<br />
sprachwissenschaftlichen Begriffen?<br />
Dem Konstrukt des „Laien“ entspricht das des „Fachmannes“. Es bleibt undefiniert.<br />
Unzählige kleingedruckte „Bemerkungen“ lauten etwa so wie unter Aristokratie:<br />
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