REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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Schon der erste Satz läßt erkennen, daß Rechtschreibung für das Gericht stets extern<br />
gesetzte Norm, nicht inhärente Norm der Sprache ist. In vielen Schriftsätzen, die dem<br />
Gericht sowohl vom Beschwerdeführer als auch von unabhängigen Sprachwissenschaftlern<br />
vorgelegt worden sind, und ebenso im mündlichen Vortrag ist der Begriff<br />
der inhärenten Norm erläutert worden. Nach dieser Auffassung besteht die<br />
Rechtschreibung zunächst darin, „zu <strong>schreiben</strong> wie die anderen“ (eventuell mit<br />
gewissen Einschränkungen hinsichtlich der als maßgebend anzusehenden Muster),<br />
unabhängig von der mehr oder weniger gelungenen Kodifikation in Wörterverzeichnissen<br />
und – nochmals einen Schritt von der Wirklichkeit entfernt –<br />
Regelwerken. Durch die Nichtberücksichtigung dieses linguistisch trivialen Sachverhaltes<br />
kommt von Anfang an ein falscher Ton in die Darstellung des Gerichts. Es wird<br />
nämlich problemlos eine normsetzende Instanz angenommen, und daß der Staat diese<br />
Rolle zu übernehmen habe, erscheint viel selbstverständlicher, als es ist.<br />
Es ist zwar richtig, daß es im 19. Jahrhundert noch lange nicht zu einheitlichen<br />
Rechtschreibregeln kam, ebenso richtig wäre es aber, auf die gleichwohl vorhandene,<br />
rasch voranschreitende Konvergenz der regionalen bzw. Verlagsorthographien<br />
hinzuweisen. Die Schulorthographien waren nur ein Beitrag zur Vereinheitlichung, sie<br />
wirkten katalysierend und beschleunigend, man muß aber annehmen, daß, wie auch<br />
Konrad Duden 1876 feststellte, die Einheit auch ohne staatlichen Eingriff gekommen<br />
wäre.<br />
Über die Konferenz von 1901 heißt es:<br />
„Die grundsätzlichen Fragen – Kleinschreibung der Substantive, lautgetreue<br />
Schreibung, Fremdwortschreibung, Silbentrennung, Getrennt- und Zusammenschreibung<br />
sowie Zeichensetzung – wurden dagegen ausgespart.“<br />
Diese Darstellung ist tendenziös, da sie einerseits wirkliche Teilgebiete (Silbentrennung,<br />
Getrennt- und Zusammenschreibung) nennt, im Falle der „Kleinschreibung der<br />
Substantive“ sowie der „lautgetreuen Schreibung“ aber nur die traditionellen<br />
Programmpunkte der Reformwilligen. Damit wird suggeriert, daß es sich bei der<br />
Einführung der gemäßigten Kleinschreibung und der phonetischen Schrift um eine<br />
seinerzeit ungelöste Daueraufgabe handele. Diese Darstellung kommt von vornherein<br />
den Bestrebungen der heutigen Reformer entgegen, die ja immer wieder ihre Vorliebe<br />
für die Kleinschreibung bekundet haben und die „lautgetreue Schreibung“<br />
nachweislich als ideale Erfüllung der Buchstabenschrift betrachten. Richtiger wäre es,<br />
neutral von „Groß- und Kleinschreibung“ und von „Laut-Buchstaben-Beziehungen“ zu<br />
sprechen. Es geht um Themen der Diskussion, nicht um fällige Veränderungen.<br />
Die „Einarbeitung des sogenannten Buchdrucker-Dudens in den für die Allgemeinheit<br />
bestimmten Duden“ wird ebenfalls tendenziös in der gewohnten Weise der Reformer<br />
dargestellt, als sei die „Allgemeinheit“ seither ungebührlicherweise mit<br />
Spezialanforderungen eines Berufszweiges überbeansprucht worden. Aber wer ist die<br />
„Allgemeinheit“? Die Orthographie von 1901/1902 war keine Schulorthographie mehr,<br />
und die orthographisch interessierte Allgemeinheit außerhalb der Schule besteht<br />
größtenteils aus Sekretärinnen und vielen anderen Menschen, die durchaus<br />
professionellen Ansprüchen an die Textgestaltung genügen wollen und sich daher mit<br />
einer lückenhaften, hinter dem „Stand der Technik“ (d. h. der Entwicklung einer<br />
hochdifferenzierten Schriftsprache) zurückbleibenden Regelung nicht zufrieden geben.<br />
Die Buchdrucker andererseits arbeiten für die Allgemeinheit, nämlich für Leser aller<br />
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