REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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ayerischen Schulorthographie sagte, an die sich die preußische anschloß), sondern<br />
lediglich zwischen den schon vorhandenen, im vorstaatlichen Raum aufgekommenen<br />
und weithin bekannten Schreibvarianten ausgewählt. Besonders nach der<br />
Reichsgründung konvergierten die regionalen Schreibweisen in erstaunlichem Maße<br />
und mit großer Schnelligkeit. Man könnte dies am Verschwinden des th in deutschen<br />
Wörtern zeigen. Schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts war das th in<br />
zahllosen Büchern sogar im Anlaut (That > Tat) nicht mehr zu finden. Ich besitze<br />
Bücher aus dieser Zeit vom Max Niemeyer Verlag, Halle, die überhaupt kein th mehr<br />
haben, und Konrad Duden weist in seiner Schrift „Zukunftsorthographie“ (1876, S. 41)<br />
darauf hin, daß die endgültige Tilgung des h „hinreichend vorbereitet“ sei. Dieselben<br />
Schulbücher durften lange vor der „Reform“ von 1901/2 in allen Bundesstaaten<br />
nebeneinander benutzt werden (Mentrup 1985). Die Schreibweisen der einzelnen<br />
Bundesstaaten, Verlagshäuser usw. waren zumindest den Lesern im ganzen deutschen<br />
Sprachgebiet bekannt. Diese Konvergenz wurde selbstverständlich dadurch unterstützt<br />
und beschleunigt, daß die auf Ausgleich zielenden Schulorthographien durch die<br />
Erziehungsbehörden seit etwa 1855 amtlich reglementiert wurden. Der Staat stellte die<br />
allgemein üblichen Schreibweisen unter Schutz – gegen die Reformvorhaben der<br />
beiden theoretischen Richtungen: der historisierenden und der phonetischen (so auch<br />
Löwer). Beide wurden als künstlich und einheitgefährdend wahrgenommen, durchaus<br />
mit Recht. Man kann auch sagen: Die große Einheitlichkeit der vorhandenen<br />
Schulorthographien beruhte darauf, daß sie sich im Geiste des pragmatischen Erlanger<br />
Germanisten Rudolf v. Raumer getroffen hatten. Die Zusammenführung der<br />
preußischen mit der bayerischen (um nur die wichtigsten zu nennen) machte daher<br />
keine Schwierigkeiten.<br />
Löwer bemüht sich, die unzweifelhaft stabilisierende Wirkung der Schulorthographien<br />
als staatliche Eingriffe darzustellen, die man gewissermaßen als Präzedenzfälle der<br />
heutigen Reform ansehen könnte. Er übersieht also, daß die staatlichen Erlasse nur die<br />
Varianz beschnitten und keinerlei ungewohnte Neuerungen aufbrachten, also nichts<br />
„initiierten“, nie kreativ tätig waren. Folglich wurden auch die Kinder nie angehalten,<br />
anders zu <strong>schreiben</strong> als ihre Eltern. Übrigens sperrt sich eine moderne Sprache auch<br />
ohne staatliche Stützung des Gewohnten gegen Veränderungen, und zwar durch die<br />
bereits genannte Dichte der Kommunikation, die zwar einen raschen Wandel des<br />
Wortschatzes fördert, im Lautlichen jedoch wegen der Ausgleichswirkung des Rundfunks<br />
und der modernen Mobilität veränderungsfeindlich wirkt.<br />
Der Staat wählte also aus und vereinheitlichte, das ist alles, und die suggestive Rede<br />
von „neuen preußischen Regeln“, von „neuer Orthographie“, „neuen Regeln“, von<br />
„Neuschreibung“ muß in diesem Sinne relativiert werden. Das „Neue“, gegen das sich<br />
Bismarck wehrte, war nicht neu, sondern anderswo (Bayern) längst üblich und im<br />
ganzen Reich bekannt. Hermann Scheuringer, den Löwer gern zitiert, sagt völlig<br />
zutreffend:<br />
160<br />
„Daß sie (die Orthographie von 1902) so schnell und ohne irgendwelche<br />
Übergangszeiten eingeführt werden konnte, liegt natürlich daran, daß sie<br />
durchgehend bei den Schulen, mehrheitlich bei den Behörden und ganz<br />
überwiegend auch im übrigen Schreibgebrauch de facto schon eingeführt war –<br />
dies doch ein bedeutender Unterschied zur neuen Orthographie ab 1998.“<br />
(Scheuringer 1996, S. 87)