REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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und ähnliche gutgemeinte Programme sprachlicher Umerziehung lassen sich zwanglos<br />
anschließen. Wer könnte es wagen, sie zu kritisieren? Wer könnte etwas gegen „Vereinfachung“<br />
des Recht<strong>schreiben</strong>s für „unsere Kinder“ haben (wie die Kultusministerinnen<br />
sich gern ausdrücken)? Im übrigen ist es unmöglich, im Schreibusus „Widersprüche“<br />
festzustellen. Widersprüchlich kann die regelförmige Beschreibung des Usus sein,<br />
nicht dieser selbst. Der Sprachusus ist ja ein Stück Wirklichkeit, und diese kann zwar<br />
Unterschiede und Unregelmäßigkeiten enthalten, aber keine Widersprüche. Diese<br />
Klarstellung ist wichtig: Widersprüche sind schon rein begrifflich etwas zu<br />
Beseitigendes, Unterschiede und Unregelmäßigkeiten an sich nicht.<br />
Im Folgenden beruft sich das Urteil auf frühere staatliche Orthographieregelungen, wie<br />
sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts üblich wurden und nach Auffassung des<br />
Gerichts bezeugen, daß Orthographie als staatliche Aufgabe begriffen wurde.<br />
„Dabei bestanden die für die Schule aufgestellten Rechtschreibregeln nicht nur<br />
aus einer Wiedergabe dessen, was sich im außerstaatlichen Bereich auf<br />
gewissermaßen natürlichem Wege an Schreibkonventionen herausgebildet hatte.<br />
Die im Schulunterricht vermittelten Regeln und Schreibweisen waren vielmehr –<br />
zumindest teilweise – auch das Ergebnis normierender staatlicher Entscheidung.<br />
Schon die Schulorthographien des 19. Jahrhunderts stellten, soweit sie in dem<br />
Bestreben um eine einheitliche Schreibung in dem jeweiligen Land bestimmte<br />
Schreibweisen ausschlossen, eine bewußte und gezielte staatliche Einflußnahme<br />
auf Art und Inhalt der Rechtschreibung dar. Gleiches galt für die Ergebnisse der<br />
staatlichen Orthographiekonferenz von 1901. Daß und in welchem Umfang der<br />
Staat die Befugnis für sich in Anspruch nahm, auch verändernd in den<br />
Schreibusus einzugreifen, zeigen im übrigen Reformvorschläge wie die<br />
Wiesbadener Empfehlungen von 1958, auch wenn sich diese nicht durchsetzen<br />
konnten.<br />
Selbst der Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 18./19. November 1955,<br />
der für Zweifelsfälle die im Duden jeweils gebrauchten Schreibweisen und<br />
Regeln für verbindlich erklärte, führte schwerlich nur zum Nachvollzug<br />
außerstaatlicher Schreibentwicklung. Nach den Worten des früheren Leiters der<br />
Dudenredaktion tradieren deren Mitarbeiter bei der von ihnen betriebenen<br />
,Sprachpflege‘ ,nicht blind überkommene sprachliche Normen, sondern<br />
überprüfen sie und bestimmen sie gegebenenfalls neu‘ (vgl. Drosdowski, a.a.O.<br />
S. 30f). Auch wenn man diese Bewertung der Tätigkeit der Dudenredakton für zu<br />
weitgehend hält, wie dies in der mündlichen Verhandlung eingewandt worden ist,<br />
läßt sich eine normative Einflußnahme des Dudens auf die deutsche<br />
Schriftsprache jedenfalls im Grundsatz nicht ausschließen, zumal eine scharfe<br />
Grenzziehung zwischen reiner Deskription und regulierender Präskription schon<br />
angesichts der Uneinheitlichkeit und Wandelbarkeit des Schreibgebrauchs kaum<br />
möglich sein dürfte. Nahm der Duden eine Änderung auf, wechselte mit diesem<br />
Vorgang die betroffene Schreibung aus dem Status des Fehlers in den der Norm.“<br />
(S. 39f.)<br />
Das Urteil drückt sich bemerkenswert vage aus. Beispiele für staatliche Neuerfindungen<br />
von Schreibweisen im 19. Jahrhundert werden nicht genannt, es sind auch<br />
aus der Literatur keine bekannt. Vielmehr wählten die Schulorthographien aus<br />
allgemein bekannten Schreibweisen einige aus, im Sinne der Beseitigung von<br />
Doppelformen. Das liegt im Wesen jeder Orthographie. Entscheidend ist, daß bereits in<br />
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