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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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Ist der Vorwurf der Wortvernichtung aus der Luft gegriffen?<br />

In ihrer Dresdner Erklärung vom 25.10.1996 behaupteten die Kultusminister:<br />

„Kein einziges deutsches Wort geht durch die Neuregelung der Rechtschreibung<br />

verloren.“<br />

Das ist falsch. Die Tilgung von Wörtern zeigt sich nicht nur an den Gewohnheitsgefügen<br />

wie sitzenbleiben, aneinanderhängen usw., von denen gerade die Kritik<br />

gezeigt hat, daß sie keine Zusammensetzungen und daher – entgegen den Annahmen<br />

der Reformer – strenggenommen keine Wörter sind, sondern bloße Zusammenschreibungen.<br />

Hier werden durch die erzwungene, der Sprachentwicklung zuwiderlaufende<br />

Getrenntschreibung nicht Wörter, sondern – schlimm genug – nur Unterscheidungsmöglichkeiten<br />

vernichtet. Allein dies betrifft nach Munske rund 1000 Fälle im<br />

Rechtschreibduden, 2000 im achtbändigen Duden und 4000 in der gesamten<br />

Dudenkartei! 15 Der Vorwurf der Wortvernichtung bezieht sich jedoch in erster Linie auf<br />

die Beseitigung echter Zusammensetzungen wie aufsehenerregend, tiefschürfend,<br />

sogenannt, Handvoll usw. – Auch die erzwungene Großschreibung von Wörtern wie<br />

feind (sein), leid (tun) usw. kann man als Wortvernichtung bezeichnen, da die Behauptung,<br />

es handele sich hier um die gleichlautenden Substantive, objektiv falsch ist.<br />

Die Dudenredaktion behauptet zwar:<br />

„Bei der Orthographie geht es um das konventionelle Buchstabieren von<br />

Wörtern; Wortschatz, Syntax und Stilistik bleiben davon unberührt.“ (Stellungnahme<br />

für das Bundesverfassungsgericht vom 11.11.1997)<br />

Das ist aber offenbar unrichtig, und zwar weil das „Buchstabieren“ (einschließlich<br />

Großbuchstaben, Zwischenräume usw.) in systematischer Weise auf die genannten<br />

Bereiche bezogen ist, und dies wiederum ganz besonders im Deutschen mit seiner<br />

nicht rein lautbezogenen Schreibtechnik. (Beispiele von Neuschreibungen mit lexikologischen,<br />

syntaktischen und stilistischen Auswirkungen findet man in meinem<br />

„Kritischen Kommentar“, vgl. auch Horst H. Munske in Eroms/Munske [Hg.] 1997.)<br />

Natürlich wird der Versuch, Wörter ganz einfach aus dem Verkehr zu ziehen, letzten<br />

Endes nicht gelingen, aber das ist kein Verdienst der Reformer.<br />

Zusammen mit den grammatischen Auswirkungen der Reform widerlegen diese Fälle<br />

auch die oft aufgestellte Behauptung, es gehe nur um die Schrift und nicht um die<br />

Sprache. Man muß Schrift und Sprache keinesfalls verwechseln oder „gleichsetzen“<br />

(wie der Vorwurf an die Kritiker lautet), um eine solche Entgegensetzung überholt zu<br />

finden. Erstens ist die Schriftsprache eine Erscheinungsform der Gesamtsprache, und<br />

zweitens geht es, wie gezeigt, tatsächlich um Eingriffe in das Sprachsystem.<br />

Welche Auswirkungen dieses Unternehmen auf die Wörterbücher hat, läßt sich an der<br />

neuen Generation zweisprachiger Wörterbücher zeigen: Wenn ein deutschlernender<br />

Engländer im „Langenscheidt Universalwörterbuch“ das Wort sogenannt sucht, das<br />

ihm doch in zahllosen deutschen Texten begegnet, findet er es nicht mehr. Ob er darauf<br />

kommt, unter so nachzuschlagen, wo er dann das keineswegs gleichbedeutende so<br />

genannt findet, ist mehr als fraglich. Die neuen Wörterbücher versäumen ihre erste<br />

Pflicht: den vorhandenen Wortschatz gewissenhaft zu verbuchen. – Dies ist ein<br />

15 Eroms/Munske (Hg.) 1997, S. 157. Den Schätzungen liegen Listen zugrunde, die von den<br />

führenden Wörterbuchredaktionen selbst erstellt worden sind.<br />

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