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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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Adjektivs sogenannt, das in jedem Jahrgang der F. A. Z. mehr als fünftausendmal<br />

belegt ist.<br />

Zu den bedenklichsten Eingebungen der Reformer gehört die Auseinanderreißung von<br />

Zusammensetzungen wie aufsehenerregend, nichtssagend. Ein schlagendes Gegenargument<br />

sind die Steigerungsformen, die bei Getrenntschreibung offenkundig<br />

ungrammatisch werden: höchst Aufsehen erregend, das nichts Sagendste. Die<br />

Reformer haben den Einwand nach langem Zögern anerkannt. Anläßlich der<br />

Mannheimer Anhörung im Januar 1998 erklärten sie es für „unumgänglich<br />

notwendig“, die Regeln in diesem Sinne zu ändern. Ihre Auftraggeber, die<br />

Kultusminister und der Bundesinnenminister, untersagten die Änderung jedoch.<br />

Trotzdem nehmen sich Duden und nun auch Bertelsmann die Freiheit, das<br />

grammatisch Richtige gegen die Wünsche der Kultusminister wiedereinzuführen. Das<br />

neue Wörterbuch weicht also bewußt von der allein verbindlichen amtlichen Regelung<br />

ab. Nur zum Schein wird weiterhin mit viel Rotdruck gearbeitet, als sei hier etwas neu<br />

geregelt, während in Wirklichkeit das Nebeneinander von Aufsehen erregend und<br />

aufsehenerregend genau der bisherigen Regelung entspricht. Wo das Kriterium der<br />

Steigerbarkeit, das die Reformer gern wiedereinführen würden, wenn sie es denn<br />

dürften, nicht anwendbar ist, verfährt das Wörterbuch sehr inkonsequent. So ist<br />

überraschenderweise blutsaugend wiederhergestellt, eisenverarbeitend jedoch nicht.<br />

Wie schon in früheren Ausgaben kommt es massenhaft zu Einträgen wie<br />

hochgeschätzt > hoch geschätzt, wohlbedacht > wohl bedacht, jeweils mit einem<br />

zusätzlichen Akzent auf dem zweiten Wort. Aber dann handelt es sich gar nicht um<br />

dasselbe Wort und folglich nicht um eine zulässige Neuschreibung. Ebenso unzulässig<br />

ist die Angabe, kennenlernen sei durch kennen lernen (mit zwei Akzenten) zu ersetzen.<br />

schwerbehindert und schwerbeschädigt können überraschendereweise und entgegen<br />

den eindeutigen Vorgaben der amtlichen Regelung auch wieder zusammengeschrieben<br />

werden, allerdings nur, wenn sie bedeuten „mit einem ärztlichen Attest versehen“. Das<br />

bedeuten sie freilich nie; der linkische Hinweis deutet vielmehr an, daß es sich hier<br />

wohl doch um feste Begriffe handelt, woraus eben die besondere Betonung und<br />

Zusammenschreibung folgt. Genau diesen Zusammenhang wollte die amtliche<br />

Regelung nicht anerkennen, nun ist er durch ein ähnliches Hintertürchen wieder zur<br />

Geltung gekommen wie im Duden-Praxiswörterbuch mit seinen frei erfundenen<br />

„fachsprachlichen“ Sonderschreibungen (vgl. F. A. Z. vom 14. 12. 1999). Götzes<br />

Behauptung, „fachsprachliches“ nichtleitend, nichtrostend sei von neuerdings getrenntem<br />

nicht leitend, nicht rostend (mit zwei Akzenten) zu unterscheiden, hat ebenfalls<br />

keinerlei Grundlage im amtlichen Regelwerk.<br />

Die Rechtschreibreform hat bekanntlich dazu geführt, daß die Schreibweise ganz<br />

alltäglicher Wörter unsicher geworden ist. Wie schreibt man zum Beispiel jetzt<br />

wohltuend? Die neuen Wörterbücher schwanken, das vorliegende hat den Stein der<br />

Weisen gefunden: es läßt den Eintrag einfach weg! Bei den vieldiskutierten Fällen vom<br />

Typ tiefschürfend kann sich das Wörterbuch nicht von den Vorgaben der Reform lösen,<br />

es bleibt bei Getrenntschreibung trotz der fatalen Folgen: das bei weitem tief<br />

Schürfendste ... Die unerhört schwierige neue Regel, wonach substantivische<br />

Bestandteile in mehrgliedrigen Entlehnungen aus beliebigen Fremdsprachen groß zu<br />

<strong>schreiben</strong> seien, war in der ersten Ausgabe fast gar nicht beachtet worden; es hieß<br />

Tertium comparationis, Pour le mérite wie eh und je. Das ist nun nachgeholt: Tertium<br />

Comparationis, Pour le Mérite.<br />

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