REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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die Norm und die normierende Wirkung ohne das staatliche Privileg anders ausgesehen<br />
hätte und sich anders entwickelt haben würde. Das Jahr 1955 bedeutet daher –<br />
ungeachtet seiner geschäftspolitischen Bedeutung für das Haus Duden – für die<br />
Geschichte der deutschen Orthographie keineswegs den Einschnitt, den manche<br />
einschlägig interessierten Reformer darin sehen wollen. Die Funktion als<br />
Leitwörterbuch beruht nicht zur Gänze auf der Amtlichkeit, sondern auf Tradition und<br />
Qualität, reicht daher auch viel weiter zurück als die Privilegierung und überdauert,<br />
wie man heute sieht, auch dessen faktische Außerkraftsetzung; denn alle<br />
konkurrierenden Rechtschreibwörterbücher sind nach kurzer Blüte praktisch vom<br />
Markt verschwunden, während der teurere Duden immer noch auf der Bestsellerliste<br />
steht. Leitwörterbücher (Webster, Oxford) kennt auch die staatsferne englische<br />
Orthographie.<br />
Daß die amtlichen Regeln von 1902 kaum je wieder abgedruckt worden sind, ist<br />
richtig, aber wenn man sie kennt, muß man sagen, daß ihre Aufnahme in den Duden<br />
(der sich gleichwohl immer auf sie berufen mußte) wenig sinnvoll gewesen wäre.<br />
Nach der Integration des Buchdruckerdudens und nach der durchaus sinnvollen, von<br />
den Sprachbenutzern offensichtlich verlangten 139 Ausdifferenzierung der eher<br />
skizzenhaften Originalregeln verlieren letztere ihre Funktion. Die Legitimationsrhetorik<br />
des Duden kann man auf sich beruhen lassen. Angesichts der erreichten und<br />
offenbar gewünschten Regelungsdichte wäre ein Beharren auf den amtlichen Regeln<br />
von 1902 weltfremd. Jeder von uns würde sich wundern, wenn er Texte zu lesen<br />
bekäme, die von den 1902 noch gegebenen Möglichkeiten freien Gebrauch machten!<br />
Der Schritt zum Buchdruckerduden war unausweichlich.<br />
Hierzu eine grundsätzliche Bemerkung: Die vielgeschmähte Ausdifferenzierung der<br />
Dudenregeln (die übrigens im Alltag eine sehr geringe Rolle spielen, weil die meisten<br />
Benutzer einfach im Wörterverzeichnis nachschlagen und viele nicht einmal wissen,<br />
daß es auch ein Regelwerk gibt 140 ) beruht auch darauf, daß immer mehr orthographische<br />
Materie, die zunächst ganz anspruchslos im Wörterverzeichnis festgehalten<br />
war, (auch) in das Regelwerk überführt worden ist. So gab es seit langem einen Usus<br />
der Getrennt- und Zusammenschreibung, doch die Teilnehmer der II. Orthographischen<br />
Konferenz trauten sich nicht zu, diesen Usus auf Regeln zu bringen. Das hat der Duden<br />
inzwischen nachgeholt – schlecht und recht, muß man sagen, aber doch wohl eher<br />
recht als schlecht. Die Neuregelung hat es anders machen wollen, und zwar ganz<br />
anders und nicht bloß deskriptiv, sondern indem sie der Tendenz der<br />
139 Das bestätigen die unzähligen Anfragen an die Sprachberatung. Auf diese Weise ist auch<br />
die oft bespöttelte Dreibuchstabenregelung immer weiter ausgebaut worden, weil man<br />
offenbar wissen wollte, wie der einfache Grundansatz sich auf die Sonderfälle bis hin zu<br />
Ballettheater auswirkt. Für Schule und Alltag spielt das alles keine Rolle. Richtig ist<br />
natürlich, daß die Schreibweise von Ballettheater bei der Seltenheit solcher Wörter nicht<br />
aus dem Schreibbrauch abgelesen sein kann; sie beruht vielmehr auf einem Zu-Ende-<br />
Denken des durchaus empirisch gestützten Grundansatzes. An der deskriptiven<br />
Grundhaltung des Duden ändern solche marginalen Ausfüllungen zunächst<br />
unberücksichtigter und daher ungeregelter Nischen nichts. – Der Reformer Gallmann<br />
sagte 1985 mit Recht: „Die meisten Rechtschreibprobleme verschwinden nicht, wenn<br />
man die zugehörigen Regelwerke zusammenstreicht oder durch lauter ,kann‘-Formeln<br />
ersetzt.“ (Gallmann 1985, S. VI).<br />
140 Vgl. Augst et al.: Rechtschreibwörterbücher im Test. Tübingen 1997.<br />
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