29.12.2012 Aufrufe

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Die Je-su-i-ten haben eine zusätzliche Trennstelle bekommen, die In-tui-ti-on nicht.<br />

Das ist die totale Willkür, die nur ein einziges Ergebnis haben kann und wohl auch<br />

haben soll: „Den Duden braucht jeder.“<br />

Noch leichtfertiger ist die unorganische Trennung deutscher Wörter: Das Wörterbuch<br />

empfiehlt ei-nander, hi-nauf, he-runter, vo-rüber usw., kanonisiert also einen<br />

primitiven Anfängerfehler. Damit schließt es sich der abwegigen Meinung der<br />

Reformer an, daß die Deutschen, nur weil sie manche Zusammensetzungen gebunden<br />

sprechen, außerstande seien, deren Bestandteile zu erkennen. Dieselben Sprecher,<br />

denen der Rechtschreibduden die Trennung Son-nabend zutrauen zu müssen glaubte,<br />

sollen aber zwecks Großschreibung nicht nur die Wortarten in fremden Sprachen<br />

beherrschen (Corpus Delicti usw.), sondern – bei allen genannten Torheiten –<br />

grundsätzlich die Muta-cum-liquida-Regel für Fremdwörter beherrschen, so daß sie<br />

anders als der Rechtschreibduden wieder Pu-blikum usw. trennen. Welcher Journalist<br />

fühlt sich nicht auf den Arm genommen, wenn man ihm die Trennung vo-raus<br />

zumutet? Während durch die verordnete Großschreibung von Acht geben eine ziemlich<br />

obsolete Acht künstlich reanimiert wird, sollen Obacht und beobachten völlig<br />

undurchschaubar sein, so daß der Praxisduden die Trennung beo-bachten empfiehlt<br />

und Obacht für gänzlich untrennbar erklärt. Komischerweise überträgt sich diese<br />

Trennungsscheu auch auf obligat und alle seine Verwandten, während bei Obliteration,<br />

observieren usw. die erste Silbe sehr wohl abgetrennt wird – warum auch<br />

nicht?<br />

Dieses ganze Durcheinander soll Standard der deutschen Presse werden, obwohl kein<br />

erwachsener Mensch und erst recht kein Computer mit der Silbentrennung die<br />

geringsten Schwierigkeiten hatte – abgesehen von jenen Lach-stürmen bzw. Lachstürmen,<br />

die aus naheliegenden Gründen für längere Zeit schwer programmierbar<br />

bleiben werden.<br />

Die Verfasser berufen sich bei ihren Entscheidungen auf die legendäre Dudenkartei.<br />

Seltsamerweise scheint darin das Wort selbständig nicht vorzukommen, obwohl es<br />

doch zum Beispiel im Jahrgang 1996 der F.A.Z. nicht weniger als 1341mal belegt ist.<br />

Duden kennt nur noch selbstständig, was keine andere Schreibweise, sondern ein<br />

anderes, jüngeres Wort ist und folglich die Orthographiereformer gar nichts angeht.<br />

Handvoll und ähnliche Zusammensetzungen, die seit Jahrhunderten im Deutschen<br />

heimisch und in den Dialekten gemütvoll verkürzt sind (Hämpfele, vgl. auch Arfel =<br />

Armvoll), werden von der Neuregelung aus dem Verkehr gezogen, ebenso jedesmal<br />

und viele andere. Der Duden schließt sich diesen Machtsprüchen der KMK klaglos an<br />

– Kartei hin, Kartei her.<br />

Die „Freigabe“ des Kommas vor Infinitivsätzen – ein Prunkstück der Reform und oft<br />

angeführter Beweis ihrer „Liberalität“ – wird vollständig zurückgenommen.<br />

Gerhard Augst: Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache.<br />

Tübingen 1998<br />

(Die Besprechung dieses Buches wird hier eingerückt, weil es den Hintergrund der<br />

Augstschen Volksetymologien erhellt, weil es den heimlichen Rückbau der Reform<br />

nach der Mannheimer Anhörung dokumentiert und schließlich auch, weil es den<br />

Sprachwissenschaftler Augst ins rechte Licht zieht. Eine ausführlichere Fassung<br />

erschien in „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“ 66, 1999, S. 296-307.)<br />

226

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!