REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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überraschend und störend ist die Nichtzulassung der herkömmlichen Schreibung, bei<br />
sonstiger Variantenfreudigkeit. (Es wirkt so, als wolle man gerade den gebildeten<br />
Schreibern eins auswischen, nach dem Motto: Die Ersten werden die Letzten sein.)<br />
Daß die „Vereinfachung der Regeln für Getrennt- und Zusammenschreibung nach<br />
formalen Kriterien“ nicht gelungen ist, habe ich in verschiedenen Arbeiten gezeigt;<br />
mein umfangreicher Aufsatz zu §§ 34 und 36 der Neuregelung steht in der<br />
„Muttersprache“ 3/97. Besonders schwerwiegend ist, daß die Neuregelung die<br />
„formalen Kriterien“ der Betonung und der Nichtunterbrechbarkeit von<br />
Verbzusatzkonstruktionen nicht berücksichtigt. Wie ich gezeigt habe, sind auch<br />
spazierengehen und baden gehen grundverschieden strukturiert (baden gehen = zum<br />
Baden gehen, aber spazierengehen ≠ zum Spazieren gehen). Auf weitere Fehler hat<br />
Eisenberg schon vor Jahren hingewiesen. Die verordnete Getrenntschreibung von<br />
Infinitiv + Verb setzt sich darüber einfach hinweg, nach einem zwar formalen, aber<br />
unsachgemäßen Kriterium. – Irgendjemand und irgendetwas sollte man auch<br />
zusammen<strong>schreiben</strong> dürfen, aber die Getrenntschreibung war nicht unbegründet, da<br />
jemand und etwas im Unterschied zu welcher, wer, was usw. erststellenfähige<br />
Indefinitpronomina sind (traditionell: „größere Selbständigkeit“ bewahrt haben). (Die<br />
Behandlung von irgend in der Neuregelung ist auch nicht konsistent.)<br />
Die Großschreibung der formalen Substantivierungen in festen Wendungen wie im<br />
Allgemeinen, im Übrigen usw. greift auf eine im 19. Jahrhundert vorübergehend<br />
herrschende Gewohnheit zurück, gegen die damals von seiten der Germanistik<br />
berechtigter Einspruch erhoben wurde. Besinnt man sich darauf, daß die<br />
Großschreibung keineswegs primär der Wortartmarkierung dient, sondern der<br />
Heraushebung dessen, wovon in einem Text die Rede ist, so erscheint die Großschreibung<br />
der Floskeln als widersinnig – als Ausnahme und nicht als Bestätigung der<br />
Regel! Außerdem stellt sie wieder eine Entdifferenzierung dar, wie bereits gezeigt. Die<br />
(Wüstersche, von Gallmann neuerdings radikalisierte) Auffassung der<br />
Wortartmarkierung, die in der Schule praktisch auf die Artikelprobe hinauslaufen<br />
dürfte, ist zwar rein formal, aber primitiv und der wirklichen Entwicklung der<br />
deutschen Schriftsprache entgegengesetzt.<br />
Dasselbe gilt von der scheinbar konsequenten Kleinschreibung schwarzes Brett usw.,<br />
die in Analogie zu schwarze Liste, schneller Brüter usw., ausgeweitet wird. Wie<br />
Untersuchungen (u. a. von Petra Ewald, Horst H. Munske) gezeigt haben, macht die<br />
deutsche Sprachgemeinschaft in viel größerem Umfang von der Großschreibung<br />
sogenannter „fester Begriffe“ (Nominationsstereotype) Gebrauch, als es der Duden<br />
vorsieht: Schwarze Liste, Schneller Brüter. Auch hier stellt sich also die Neuregelung<br />
gegen die wirkliche Entwicklung der Sprache, d. h. gegen den offenkundigen Willen<br />
der Sprachgemeinschaft.<br />
Das Komma zwischen Hauptsätzen, die mit und verbunden sind, ist keineswegs so<br />
widersinnig, wie die Reformer uns einreden wollen. Das stellt sich nur aus einer<br />
verkehrten Sicht so dar, wenn man nämlich der Formel Glauben schenkt, daß und<br />
verbinde und das Komma trenne. In Wirklichkeit stellt jeder Hauptsatz einen „Schritt“<br />
im Fortgang des Textes dar, weshalb normalerweise ja auch ein Punkt – sogar<br />
zusammen mit und – zwischen ihnen steht. Das Komma trennt nicht, es verbindet<br />
vielmehr, so daß der Widerspruch zur Konjunktion nur in der Einbildung der Reformer<br />
existiert. Daß Schüler hier viele Fehler machen, ist ein pädagogisches Problem und<br />
damit nachrangig für die Beurteilung einer hochentwickelten Orthographie. Für<br />
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