REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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sie sich in einer Art Rechtfertigungszwang, der sich in aggressiven Tönen gegenüber<br />
allen Reformkritikern äußerte und die „Woche“ zu einem völlig kritiklosen<br />
Schulterschluß mit den Kultusministern nötigte – ein Schicksal, das später alle<br />
umgestellten Zeitungen teilten. Zu welchen Verrenkungen dieser frühe Kniefall vor der<br />
Macht führte, verdeutlicht der folgende Text, den Chefredakteur Manfred Bissinger<br />
nach der Rückumstellung der F.A.Z. an die Leser richtete:<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
Dreieinhalb Jahre ist es jetzt her, ganze 187 Ausgaben der WOCHE, dass wir als<br />
erste Zeitung die neuen Regeln der Rechtschreibreform einführten. Und wir sind<br />
gut damit gefahren. Ich erinnere drei Abbestellungen, ganz am Anfang,<br />
Professoren von Pädagogischen Hochschulen, ansonsten waren Sie (das sind<br />
immerhin 390.000 Leserinnen und Leser) einverstanden. Die meisten hatten es,<br />
das muss ehrlicherweise hinzugefügt werden, erst gar nicht bemerkt. Wann<br />
berichten wir schon über Schifffahrt oder Teeeier, Wörter, die die neue<br />
Orthografie schon optisch wahrnehmbar machen.<br />
Wir haben uns gefreut, als dann vor über einem Jahr erst die „Zeit“ und später die<br />
Agenturen und mit ihnen alle anderen Zeitungen und Zeitschriften unserem<br />
Schritt folgten. Jeder nutzte die Spielräume der Reform auf seine Weise. Wir zum<br />
Beispiel schrieben viele Fremdwörter weiter wie vorher. Wir wollten<br />
„Portemonnaie“ nicht eindeutschen. Die Regeln erlauben das, und weder der<br />
Sprache noch den Inhalten hat es geschadet, dass wir auch andere offensichtliche<br />
Ungereimtheiten von vornherein korrigiert haben.<br />
Die deutsche Sprache entwickelte sich schon in der Vergangenheit äußerst<br />
lebendig, und sie wird es kontinuierlich weiter tun – wir sind sicher, dass die<br />
zuständige Kommission sowohl unsere als auch die Erfahrungen der anderen<br />
Anwender bei der angekündigten Überarbeitung des Regelwerkes nutzen wird.<br />
Schließlich gehört auch die Korrektur von Fehlern zum Ethos der Wissenschaft.<br />
Die in dieser Woche erfolgte Rückkehr der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“<br />
(„FAZ“) zur Schreibweise des vergangenen Jahrhunderts wird daran nichts<br />
ändern können. Die klugen Köpfe sind allein: „Welt“ wie „Süddeutsche“,<br />
„Focus“ wie „Spiegel“, „Bild“ wie „Stern“ respektieren weiter die neuen<br />
Schreibweisen. Der Schritt der „FAZ“ wird in der Zukunft eher die abschrecken,<br />
die inzwischen nach den neuen Regeln ausgebildet worden sind.<br />
Wir warten in Ruhe ab, was die gelehrten Herren der Rechtschreibkommission<br />
aus der Praxis für Lehren ziehen. Sollten sie vorhandene Absurditäten tilgen und<br />
der Reform damit zu noch mehr Klarheit verhelfen – uns sollte es nur recht sein.<br />
Ohnehin will keiner den jetzt der „FAZ“ zujubelnden Schriftstellern ihre Sprach-<br />
Kreativität rauben. Sie sollen so dichten, wie sie glauben uns Leser am besten<br />
überzeugen zu können. Man denke nur an Arno Schmidt, jenen genialen Autor,<br />
der schon die alten Regeln missachtete und einfach „1zigartig“ schrieb.<br />
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