REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben
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Neuregelung nicht berührt. Bei fleischfressend (karnivor) und Dutzenden ähnlicher<br />
Wörter kann er sich nicht zu einem analogen Vorgehen entschließen, es bleibt bei<br />
Fleisch fressend. Bei leicht verletzt, anders denkend (aber Leichtverletzte, Andersdenkende!)<br />
bleibt er auf halbem Wege stehen, wie schon der Rechtschreibduden. Und bei<br />
tief schürfend ist die Anpassung an die Erfordernisse der Grammatik ganz unterlassen<br />
worden, daher: am tief schürfendsten, das tief Schürfendste usw. Natürlich ist Aufsehen<br />
erregend, Kosten sparend, nichts sagend in vielen Fällen falsch, aber der Praxisduden<br />
ist keineswegs befugt, aufsehenerregend, kostensparend, nichtssagend wiederherzustellen<br />
und als regelkonform auszugeben. Es handelt sich vielmehr um jene<br />
Revisionsvorschläge, die von der Rechtschreibkommission als „unumgänglich<br />
notwendig“ unterbreitet, von den Kultusministern jedoch ausdrücklich abgelehnt<br />
wurden.<br />
Von notleidenden Krediten (im Gegensatz zur Not leidenden Bevölkerung) weiß der<br />
Rechtschreibduden so wenig wie die amtliche Regelung; das Praxiswörterbuch hat dies<br />
unter dem Eindruck der Kritik eigenmächtig hinzuerfunden. Das Wort sogenannt wird<br />
zwar nicht wiederhergestellt, es bleibt bei so genannt – aber die Abkürzung soll gleichwohl<br />
sog. lauten! (Das Österreichische Wörterbuch ist da konsequenter; es vermerkt:<br />
„so gen. (früher: sog.)“. Dafür löst es wohlschmeckend usw. auf, also: etwas noch wohl<br />
Schmeckenderes, am wohl schmeckendsten – eine grammatische Monstrosität, die wiederum<br />
der Duden von vornherein vermieden hat.) Das Nebeneinander von blutstillend<br />
und Blut saugend bleibt bestehen. Dieser Wirrwarr betrifft Hunderte von Fällen.<br />
Der Hohe Priester muß laut Neuregelung getrennt geschrieben werden, wobei die<br />
Reformer offenbar übersehen haben, daß es Formen ohne Beugung des Erstgliedes<br />
gibt: Soll man etwa <strong>schreiben</strong> den Hohe Priester usw.? Nachdem der Rechtschreibduden<br />
hier wahre Eiertänze vorgeführt hat, zieht das Praxiswörterbuch einen<br />
Schlußstrich: Es heißt schlicht und einfach wieder der Hohepriester und ebenso das<br />
Hohelied – <strong>vernünftig</strong>, aber in krassem Widerspruch zur amtlichen Regelung.<br />
Zunächst völlig absurd scheint folgender Eintrag: „wieder sehen; er kann wieder<br />
sehen, aber er wird sie bald wiedersehen (mit ihr ein Wiedersehen feiern)“. – Warum<br />
sollte die Kombination eines Adverbs mit einem Verb einen besonderen Eintrag wert<br />
sein? Dazu muß man den Hintergrund kennen: Der reformierte Rechtschreibduden<br />
hatte sich der irrigen Meinung hingegeben, wiedersehen müsse nunmehr getrennt<br />
geschrieben werden (eine Folge der unklaren Angaben von § 34 der Neuregelung). Die<br />
Fehldeutung hat sich in mehrere Millionen Wörterbücher und fast alle Schulbücher<br />
fortgeerbt. Im Praxiswörterbuch wird er nun stillschweigend korrigiert, jedoch so, daß<br />
auf den ersten Blick überhaupt keine Änderung vorliegt: derselbe Haupteintrag wieder<br />
sehen findet sich hier wie dort.<br />
Nicht nachzuvollziehen ist, warum Finnland das Land der tausend Seen ist, während<br />
bei Tausend und Abertausend Sterne Großschreibung eintritt; allerdings gehört der<br />
entsprechende Paragraph der Neuregelung zu den verworrensten überhaupt.<br />
Bei der Fremdwortschreibung ist das Praxiswörterbuch so konservativ wie möglich.<br />
Thunfisch bleibt, ebenso Bouclé, Necessaire usw.; und der Frigidaire verschwindet in<br />
der Versenkung, aus der ihn die Neuregelung eigens zu dem Zwecke einer postumen<br />
Schreibänderung hervorgeholt hatte. Die Plattitüde wäre nicht nötig gewesen, zumal<br />
sie auch noch als „gehoben“ markiert ist.<br />
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