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REGELUNGSGEWALT - vernünftig schreiben

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„Wer weiß, in wie vielen Briefen das ,du‘ schon bislang kleingeschrieben wurde?“ ist<br />

schlicht irrelevant.<br />

Das englische Beispiel einer staatsfreien Einheitsorthographie mag „eher die<br />

Ausnahme“ sein (vergleichende Untersuchungen sind mir nicht bekannt). Es ist<br />

immerhin bemerkenswert, daß die wichtigste Weltsprache ohne direkten Staatseingriff<br />

(so auch Löwer) orthographisch außerordentlich gleichförmig geworden ist und daß in<br />

angelsächsischen Schulen ein intensiver Rechtschreibunterricht ohne große Zweifel an<br />

der jeweils gültigen Schreibweise stattfindet. Warum das in Deutschland nach der<br />

Herstellung einer Einheitsorthographie nicht auch möglich sein soll, wird nicht<br />

erörtert. Aus der unbestrittenen Tatsache, daß die Vereinheitlichung der deutschen<br />

Orthographie unter Mitwirkung der staatlichen Schulorthographien zustande kam, darf<br />

nicht einmal gefolgert werden, daß es ohne diese staatlichen Maßnahmen überhaupt<br />

nicht gegangen oder auch nur wesentlich anders abgelaufen wäre, so daß wir heute<br />

entweder ein orthographisches Durcheinander oder eine gänzlich andere<br />

Rechtschreibung hätten. Allerdings erfordert es einen beträchtlichen Aufwand, wenn<br />

man zeigen will, daß die Normierung durchaus den immanenten Gesetzmäßigkeiten<br />

der Sprachentwicklung folgte. Man wird dann oft sagen können, was Munske am<br />

Beispiel der Vokalquantitätsbezeichnung nachgewiesen hat:<br />

„Die jahrhundertelange Systematisierungsarbeit von Druckern und Grammatikern<br />

ist den komplexen sprachlichen Gegebenheiten ziemlich angemessen gerecht<br />

geworden.“ 136<br />

Die heutige Orthographie erweist sich bei genauerer Untersuchung als erstaunlich<br />

konsequente Anwendung von Grundsatzentscheidungen, die lange vor der Welle<br />

staatlicher Eingriffe getroffen worden sind. Dem stellt Löwer die auffallend vage<br />

Behauptung entgegen:<br />

„Allein die Tatsache der staatlichen Intervention für diesen Bereich hat die<br />

,Eigengesetzlichkeit‘ der Sprachentwicklung maßgeblich konditioniert, hat ihr<br />

neue Gesetzmäßigkeiten hinzugefügt. Selbst eine rein aus dem Schreibbrauch<br />

entlehnte Norm (die so mangels natürlicher Einheitlichkeit ohnehin eine Fiktion<br />

ist), hat immer eine präskriptive Dimension, indem sie den Entwicklungsprozess<br />

der Sprache hemmt.“ (vgl. auch: „Die Schulorthographien des 19. Jahrhunderts<br />

haben die ,Eigengesetzlichkeit‘ der deutschen Orthographie-Entwicklung<br />

begründet.“)<br />

Worin sollen die „neuen Gesetzmäßigkeiten“ bestehen? Etwa in der Hemmung selbst?<br />

Warum soll die Uneinheitlichkeit des Schreibbrauchs eine Normableitung zur Fiktion<br />

machen? Was bedeutet der hervorgehobene Ausdruck „natürlich“ hier? Etwas mehr<br />

Deutlichkeit wäre an dieser entscheidenden Stelle wünschenswert gewesen. Das gilt<br />

auch für die „staatlich beförderte Zurückdrängung abweichender gesellschaftlicher<br />

Vorstellungen“. Sollten mit den „gesellschaftlichen Vorstellungen“ die Konstruktionen<br />

Weinholds oder der Radikalphonetiker gemeint sein? Oder hat der Staat via<br />

Schulorthographie auch nur in einem einzigen Fall die von Löwer ja zugestandene<br />

Eigengesetzlichkeit der Sprachenentwicklung vergewaltigt?<br />

Im übrigen wird hier wie an vielen anderen Stellen zwar ganz plausibel behauptet, daß<br />

die Schulorthographie sich der „Entwicklung“, der „Veränderbarkeit“ usw. entgegenstelle,<br />

aber auch das muß relativiert werden. Ungeachtet aller Fixierung in staatlichen<br />

136 Eroms/Munske [Hg.] 1997, S. 55, verfaßt 1985.<br />

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