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StudienVerlag - Oapen

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Dreyfus aus Innsbruck (1930)<br />

ED/DV: Die literarische Welt, 6. Jg., Nr. 36 (1930), S. 1–2<br />

Wir müssen Namen nicht nennen, wir wissen, wer gemeint ist – wir, die es angeht.<br />

Und es geht jeden an, der nicht ein Lump ist. Jeden, der trotz allem einmal noch<br />

einen Zehner setzen will auf die Idee von Recht und Gerechtigkeit. Aber der Fall<br />

des kleinen, häßlichen Studenten Philipp Halsmann teilt das Schicksal aller anderen<br />

„Fälle“: die nächste Ozeanüberfliegung ist dem öffentlichen Bewußtsein wichtiger,<br />

weil sie neuer ist. Und es ist bequem, nicht Tag für Tag daran erinnert zu werden,<br />

daß man dem Vollzug eines Justizverbrechens zusieht, tatenlos, ohne dreinzuschlagen,<br />

So weit haben wir es gebracht.<br />

Darum sei uns willkommen, was diesen Fall Halsmann „neu“ macht. Darum<br />

ist es doppelt willkommen, daß ein „rein arischer Verlag“ (wer schämte sich nicht<br />

bei der Niederschrift solcher Distinktion!), daß der Verlag Engelhorn in Stuttgart,<br />

dem das nicht vergessen werden soll, ein Buch herausbringt, das stärksten Widerhall<br />

wecken, ehrlichste Ergriffenheit auslösen muß: Philipp Halsmanns Briefe aus<br />

der Haft an eine Freundin. Briefe, „echte“ Briefe. gerichtet an ein junges Mädchen,<br />

dessen Antworten, leider nicht veröffentlicht sind, dessen Bild aber in diesen<br />

Briefen plastisch wird als das eines offenbar ganz prächtigen, klugen und mutigen<br />

Menschen. Aber nicht darum geht es. Und auch nicht darum, daß wir da einmal<br />

unmittelbaren und unverfälschten Einblick bekommen, in Herz, Hirn und Weltbild<br />

derer, die heut um die Zwanzig sind – einen Einblick, der die Herausgabe<br />

dieses Buches (sie ist von Dr. Karl Blanck besorgt) allein schon vollauf rechtfertigen<br />

würde. Sondern es geht da um jenen Weckruf, der wieder einmal vonnöten ist. Und<br />

vermittelt wird darüber hinaus in diesen Briefen höchst wesentliches Material zur<br />

Beantwortung der Frage, wie es unter unser aller Augen zum Justizverbrechen an<br />

Halsmann überhaupt kommen konnte. Material, das zur Kenntnis genommen werden<br />

muß – auch wenn man weiß, daß uns ein nächster Fall Halsmann ebensowenig<br />

erspart bleiben wird wie ein nächster Krieg.<br />

Was ist geschehen? Daß (an Stelle dialektkundiger Strafverteidiger-Komödianten,<br />

die vielleicht etwas erreicht hätten) die besten Köpfe Oesterreichs und<br />

Deutschlands so naiv, so verdammt idealistisch waren, zu glauben, sie könnten,<br />

vertrauend nur auf ihre gute Sache, vor den Moloch Volk, repräsentiert durch eine<br />

Geschworenenbank aus dem Zillertal, hintreten und ihm ein Opfer aus den Zähnen<br />

reißen – das war Fehler eins. Daß prominente Juden so unpolitisch waren, aus dem<br />

Fall Halsmann eine „Sache des Judentums“ zu machen, statt ihn sein zu lassen, was<br />

er tatsächlich ist: eine Sache der gesitteten Welt – das war Fehler zwei. Aber nicht<br />

dieser Fehler und nicht jener Fehler hat dem Studenten Halsmann schließlich das<br />

Genick gebrochen, sondern der Student Halsmann selbst. Nicht „handelnd“, sondern<br />

„seiend“: sein Sein, sein Hirn, sein Habitus. Man bedenke; ein kleiner, häßlicher,<br />

bebrillter, jargon-infizierter Jude, Intellektueller von vielen Graden, fällt durch<br />

eine Verkettung undurchleuchtbarer Umstände in die volksrichterlichen Hände der<br />

schlichten, ehrlichen Vollbartmänner aus dem Zillertal. Vollbärte? Man lese diese<br />

Stelle aus einem Brief:<br />

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