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StudienVerlag - Oapen

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An Gertrud Cornelius<br />

o. O., 20.10.1939<br />

Ms. o. U., ÖNB<br />

L.G.,<br />

es ist mir endlich, nach kaum erträglichen drei Monaten, gelungen, für Mama ein<br />

hoffentlich geeignetes Arrangement zu finden. Sie ist heute früh nach Ramsgate in<br />

Kent abgereist und wird dort in einem Refugees Co-Operative Home leben. Die<br />

Adresse ist 5, Victoria Parade, Ramsgate. Die Sache gehört der teuersten Kategorie<br />

der Refugee-Institutionen an, ich muss sh 25 wöchentlich bezahlen. (Arrangements<br />

jeder Art bis hinunter zu sh 12 1/2 waren mir angeboten.) Eingeschlossen in dem<br />

Preis ist sämtliche Behandlung für nicht schwere Krankheiten und auch sonst praktisch<br />

alles was sie braucht. Die Reise war sorgfältigst organisiert, in London wird<br />

sie von Stefi und Dr. Steiner abgeholt und auf den andern Zug gesetzt. in Ramsgate<br />

wird sie von dem Sekretär des Heimes, Mr. Bild, erwartet.<br />

Ich schreibe Dir das alles mit dieser Genauigkeit, weil ich unmittelbar nach<br />

Mamas Abreise von Handlungen erfahren habe, die es mir unmöglich machen,<br />

mich weiter um sie zu kümmern. Ob Rolly gut daran getan hat, diese Dinge vor mir<br />

zu verheimlichen, weiss ich noch nicht. Jedenfalls werde ich die sh 25 für Mamas<br />

Unterhalt weiter bezahlen solang ich irgend kann – obgleich diese Leistung sehr<br />

weit über meine Möglichkeiten hinausgeht und von mir unter ganz anderen psychologischen<br />

Voraussetzungen arrangiert worden ist. Aber mit dieser materiellen<br />

Leistung möchte ich auch jeder weiteren seelischen Belastung ledig gehen. Ich werde<br />

mit Mama nicht weiter korrespondieren, ihre Briefe nicht öffnen, keinen Penny über<br />

das einmal Zugesagte hinaus bezahlen. Kann ich das teure Arrangement nicht mehr<br />

bestreiten, so wird sie in ein billigeres Heim gehen müssen […]<br />

Ich hoffe sehr, dass es Dir und dem Kind gut geht. Wie steht es mit der Arbeitsbewilligung,<br />

wie mit dem Fremdentribunal? Wirst Du endlich bezahlt für Deine<br />

Arbeit? Ich habe das Gefühl, dass Du dort die Leistung erbringst, die die Leute<br />

sonst teuer bezahlen müssten.<br />

Wie wir uns in der nächsten Zeit durchschlagen werden, weiss ich noch nicht.<br />

Das Geld für Ramsgate ist etwa soviel, wie Rolly und ich gemeinsam ausgeben.<br />

Dennoch – wir atmen auf. […]<br />

Den Altersheimplatz für seine Mutter konnte RN durch die Hilfe des Jewish Refugees<br />

Committee organisieren, das sich freilich von „a man of your standing“ einen Beitrag<br />

von sh 30 wöchentlich erwartet hätte.<br />

RN ist entnervt und ratlos, „denn der Zustand der Mutter schwankt in jeder Beziehung<br />

von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde. Ueberströmende Liebe wechselt ab mit sonderbarsten<br />

Hassgefühlen, Ablehnung jeder Nahrungsaufnahme mit Klagen, dass sie<br />

infolge der ihr vorgeschriebenen Diät verhungere, und extreme Schwächezustände<br />

mit einer ebenso extremen Tatkraft, die sich meist in unsinnig langen Fussexpeditionen<br />

auslebt. Einmal versichert sie, Gerty, ich und Hitler hätten ihr alles gestohlen, dann<br />

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