09.01.2014 Aufrufe

StudienVerlag - Oapen

StudienVerlag - Oapen

StudienVerlag - Oapen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

M in A [„Mein viertes Leben“] (1970/71)<br />

DV: Hs., ÖNB 20.883/1–4, ca. 246 Blatt<br />

8.5.70<br />

(1) Widerlich, wie alt man inzwischen geworden ist. Man sollte der Zeit den Prozeß<br />

machen, wegen boshafter Sachbeschädigung. Wahrscheinlich habe ich das schon<br />

einmal gesagt, oder irgendwo geschrieben, aber das ist mir schnurzegal. Ich gedenke<br />

mich nicht zu kümmern um die paar Trottel, deren Hobby oder Profession es ist,<br />

einem derlei literaturgeschmäcklerisch nachzuweisen. Im Gespräch, rund um den<br />

Tisch, das ist etwas anderes – da tritt mich Helga diskret vors Schienbein, wenn ich<br />

etwas erzählen will, das ohnedies schon im „Leichten Leben“ steht oder sonst wo.<br />

Sie weiß das, ich weiß es nicht.<br />

Erfindet einer nicht mehr Geschichtelach, die für keinen von Nutzen sind, steht<br />

einer als Zeuge an der Barre [sic] bezüglich dessen, was er, so wahr ihm Gott helfe,<br />

verstand oder begangen hat, so hat er nur dieses eine einzige Leben, aus dem er<br />

schöpfen kann. Andere meckern, so ausführlich sich mit sich selbst zu befassen,<br />

sei narzißtisch und eine Art Onanie. Dann ist auch der Mann, der sich die Kehle<br />

durchschneidet, ein Onanist.<br />

Wozu noch kommt: von dem vor zehn Jahren Gesagten gelten heute nur mehr<br />

die dürren Knochen des Sachverhalts, nicht die Einsicht in diesen Sachverhalt. Also<br />

die Wirklichkeit und nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ändert sich mit jedem Schub<br />

Zeit, dem der Referent inzwischen ausgesetzt gewesen ist. Die Zeit vollzieht ihre<br />

Sachbeschädigungen an uns nicht im Gleichschritt sondern in Schüben; wir leben<br />

in Schüben, wir altern in Schüben, wir verrecken nach einem letzten Schub – oder<br />

habe ich auch das schon einmal gesagt? Zukunftsfreudiger ausgedrückt: Nach jedem<br />

Schub ist das Leben neu. Es liegt vor uns mit ungeahnten Möglichkeiten und Abenteuern.<br />

Unendlich. Nur eben mit einem anderen umdrohteren [?] Ausgangspunkt<br />

(und Endpunkt) für diese neue Unendlichkeit.<br />

Das ist mein vierter Versuch einer Selbstbeschreibung. Mein viertes Leben. Die<br />

drei früheren („Plague House Papers“, „Leichtes Leben“, „Vielleicht das Heitere“)<br />

habe ich mir eben früher aus dem Regal genommen und in ihnen gelesen, den<br />

ganzen Vormittag.<br />

Ich glaubte fast immer, krank zu sein und nah am Tode. Das war Unfug. Ich<br />

erzählte längst einmal die Geschichte von dem Mann, der nach Pariser Abenteuern<br />

in sein heimatliches Provinznest Komotau zurückkommt und seine amourösen<br />

Taten berichtet – nur nicht das für seine Hörer Interessanteste. „Der Rest“, sagte er<br />

bloß, „war wie in Komotau“. Auch Kranksein und vor die Hundegehen und Verrecken<br />

ist wie in Komotau. Ich erkläre hiermit für dieses mein Viertes Leben, daß<br />

ich gesund und nie zu sterben entschlossen bin.<br />

(2) Bleibt zu erklären: Warum glaube ich, daß es jetzt an der Zeit ist, dieses Vierte<br />

Leben aufzuschreiben? Der erste Grund ist der schon erwähnte Schub: Wahrheiten<br />

bezüglich der Vergangenheit haben sich sehr verschoben – neue Wirklichkeiten<br />

haben sich eingestellt, in großer Zahl – abgesehen von den sechshundert Seiten,<br />

die ich, ich schrieb es dort, aus dem Manuskript meines Dritten Lebens, „Vielleicht<br />

385

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!