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StudienVerlag - Oapen

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An Stefan Zweig<br />

Wien-Grinzing, 21.5.1927<br />

Hs. m. Kopf (Kopie), DÖW 19532/2<br />

Seien Sie, sehr verehrter Herr Doktor, für Ihren lieben Brief aufs herzlichste bedankt.<br />

Was Sie über die zu große Straffheit sagen, gibt mir sehr zu denken. Sie schien<br />

mir ein unbedingtes Postulat ernsthafter Epik zu sein, sie schien mir gerade auch<br />

in Ihrer Produktion zu walten, ich stecke seit einem halben Jahr in einem sehr<br />

umfangreichen Gegenwartsroman, dessen bewußt potenzierten Handlungsreichtum<br />

ich wieder nur durch diese konzessionslose Straffheit meistern zu können glaubte –<br />

und nun gibt es da ein Zuviel? War diese Straffheit nicht vor den Romanen der<br />

Romantiker einerseits und vor denen der Russen auf der anderen Seite ein unangetastetes<br />

Gesetz? Und ist es unserer Zeit nicht gemäß, von der psychologischen<br />

Paraphrase, die mir ja zutiefst doch nur eine Unsachlichkeit und Selbstgefälligkeit zu<br />

sein scheint, endlich wieder zurückzufinden zum – ich möchte sagen: zum immanenten<br />

Mythos, der dem kommentarlosen Geschehen, dem strengen Nacheinander<br />

innewohnt? Sparsam darstellend aufzuzeigen, wie das post hoc ein propter hoc<br />

ist – ist das nicht das eigentliche Ethos künstlerischer Produktion? […]<br />

Offenbar hatte Zweig die „zu große Straffheit“ der „Pest von Lianora“ bemängelt.<br />

Der „sehr umfangreiche Gegenwartsroman“, an dem RN arbeitet, ist „Sintflut“ (1929),<br />

der die Wiener Gesellschaft der Inflationsjahre thematisiert. – Zweig hat Vorbehalte,<br />

setzt sich aber öffentlich für diesen neusachlichen Roman ein. Den Einwänden Zweigs<br />

könne er – so RN in einem Brief vom 31.1.1929 – „guten Gewissens nicht allzuviel<br />

entgegenhalten. Kein Zweifel, die Menschen sind zum Großteil wirklich überdimensioniert<br />

[…], die Proportionen sind verzerrt.“ Doch diese – gewollte – „Verzerrung der Proportionen<br />

schien mir eigentümlich zu sein einer Zeit des Totentanzes, der Apokalypse,<br />

der Sintflut.“ RN will sich Zweigs Kritik „zu Herzen nehmen“; bisher „wurde meinen<br />

Menschen und meinen Ereignissen immer durch besondere Umstände Sauerstoff in<br />

die Lungen gepumpt. Aber ich weiß wohl, daß es die vornehmste und schwierigste<br />

Aufgabe des Künstlers ist, die Atemluft nicht zu verfälschen.“ (Vgl. hs. Brief -Kopie,<br />

DÖW 19532/2)<br />

In einer ausführliche Besprechung in der Neuen Freien Presse vom 8.3.1929 vergleicht<br />

Zweig „Sintflut“ mit anderen Werken über die Inflationszeit (von Felix Braun, Paul Zifferer<br />

und Raoul Auernheimer) und resümiert: „Sintflut“ sei „niemals kalt oder ironisch,<br />

sondern immer ingrimmig genau“, voll der „Erschütterung über das Verbrecherische<br />

jener Zeit“ und so „eines der wichtigsten Bücher, die wir seit Jahren aus Wien bekommen<br />

haben.“ Hier werde nichts „verdeckt und verschönert, nichts verschwiegen und<br />

gemildert, nicht eine falsche Wiener Gemütlichkeit in die Schwindelepoche hineingeschwindelt<br />

[…] An der Größe der Anlage ist hier ein junger Künstler selbst groß<br />

geworden.“<br />

Siehe dazu in diesem Band: „Sintflut: Eine Selbstdarstellung des Dichters“ (1929).<br />

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