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StudienVerlag - Oapen

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Für eine andere Brüderlichkeit (1972)<br />

ED/DV: Die Zeit, (27. Jg., Nr. 11), 17.3.1972, S. 14/Ms., ÖNB 21.414<br />

Schon wieder ein Jahr um. Schon wieder eine „WOCHE DER BRÜDERLICH-<br />

KEIT“ auf dem Kalender. Was mich daran erinnert, daß der erst unlängst wieder<br />

heftig und grundlos in die Waden gebissene Heinrich Böll schon letztesmal, vor<br />

einem Jahr, ein paar klare Worte über die Verlogenheit dieser „Wochen“ gesagt hat.<br />

Auch aus jenem Anlaß schon regten sich ein paar Leute über ihn auf. Derlei ist ein<br />

Kompliment für ihn – schade daß er das nicht immer sofort begreift. Er ist so sehr<br />

ein weithin sichtbarer Schriftsteller von internationaler Potenz. So einen hätten<br />

die Reaktionäre gern unter Kontrolle, in einem elfenbeinernen Turm, unter solider<br />

Bewachung. Er aber läßt sich nicht einsperren, er bricht aus, er treibt seinen Unfug<br />

auf die Spitze – den Unfug, eine eigene Meinung zu haben, die von traditionellen<br />

Meinungen mitunter grell absticht<br />

Wie war das damals vor einem Jahr? Ich habe Bölls Text nicht zur Hand. Was er<br />

im wesentlichen sagte, war ja wohl, er werde an diesen „Wochen der Brüderlichkeit“<br />

erst wieder teilnehmen, wenn diese Brüderlichkeit sich nicht bloß auf die Juden<br />

beziehe, sondern auf alle bedrängten Minderheiten unter uns.<br />

Wie recht er hatte. Ich will aber die derzeit fällige Wiederkehr dieser „Woche“ nicht<br />

bloß zum Anlaß nehmen, Böll beizupflichten, sondern das von ihm Gesagte sehr zu<br />

verbreitern. Ich bin ein Jude, und es ist hoch an der Zeit, daß zu diesem Thema endlich<br />

ein Jude das Wort ergreift. Veranstaltungen dieser Art hatten anfänglich ihren guten<br />

Sinn. Sechs Millionen Juden waren von den Deutschen umgebracht worden – von<br />

den Deutschen, nicht von Hitler, Himmler und einem engen Kreis. Jeder der 53.000<br />

KZ-Wächter war ein Mörder. Ungezählte von der SS, vom SD, von der Polizei. Und<br />

alle jene Wehrmachtsangehörigen, die fliehende Einzelne und Familien auf freiem<br />

Feld abknallten wie die Kaninchen. Mörder nicht immer auf Befehl. Und nicht gratis.<br />

Sondern für Kopfgeld – Zigaretten, Schnaps. Man überlege sich das doch. Mörder<br />

unter uns, Millionen Mitwisser unter uns – und nachher wollte es keiner gewesen sein.<br />

Damals also hatte es sehr wohl einen Sinn, dass ein Mann wie Theodor Heuss<br />

aufstand und sagte: Wir sind keine Nazis, also gibt es bei uns keine Sippenhaft.<br />

Keine solidarische Schuld – wohl aber eine solidarische Scham. Das war damals edel<br />

gedacht, von ihm und anderen. Jedes Jahr eine Woche der Brüderlichkeit mit den<br />

paar armseligen Überlebenden von Auschwitz. Daß es die ohnedies und jedenfalls<br />

schuldlosen Deutschen waren, die ein Schuldgefühl hatten, während die Schuldigen,<br />

die mit Blut an den Händen sich tot stellten, fürs erste noch, oder sich ins Ausland<br />

verkrümelten – das fiel zunächst nicht auf.<br />

Inzwischen aber hat sich eine Menge geändert. Heuss ist tot – schon sein unmittelbarer<br />

Nachfolger hatte an den KZs der Nazis mitgebaut.<br />

Tot, verschwunden die so allgemein bußfertigen besiegten Deutschen von<br />

damals – die meisten hatten inzwischen ihr Gedächtnis erfolgreich zurechtgerückt<br />

und waren jetzt wirtschaftswunderlich vielverdienende Alliierte der früheren Sieger.<br />

Ihr Gewissen war blitzblank. Gab es irgendwo Schuldige in der Welt, so waren<br />

es die von Adenauer und seinen Lieben und von Springer und seinen Zeitungen<br />

verteufelten östlichen Gespenster im Kalten Krieg.<br />

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