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StudienVerlag - Oapen

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[Robert Neumann und Ludwig Marcuses „Obszön“] (1962)<br />

ED/DV: Die Zeit, 17, Nr. 43, 26.10.1962, 20/21 („Keine Scheidung zwischen Pornographie und<br />

Kunst?“) / Ms., ÖNB 21.145<br />

Kritiker müßte man sein – wie mein Freund Reich-Ranicki zum Beispiel. Weck’ ihn<br />

aus dem tiefen Nachmitternachtschlummer, leg’ ihm, im Finstern, eine Hölderlin-<br />

Ode in die noch schlaftrunkene Hand – und mit dem Fingerspitzengefühl, das für<br />

ihn so charakteristisch ist, wird er sofort konstatieren: „Kammgarn, halbgeschoren,<br />

mit fünf Prozent Kunstfaserdurchschuß, Fischgrätenmuster leicht antiquiert“.<br />

Aber wie verhält sich ein branche-unerfahrener Mann wie ich, wenn ihm ein<br />

gewisser R. W. Leonhardt den Umbruch eines Buches von Ludwig Marcuse schickt,<br />

samt den Spielregeln: „Ich schicke Marcuse gleichzeitig den Umbruch Ihres neuen<br />

Romans, ich werde seine Kritik über Sie und Ihre Kritik über ihn gleichzeitig publizieren,<br />

und weder Sie noch er werden im voraus sehen, was der andere über ihn<br />

geschrieben hat.“ Mit dem unfeinen Zusatz: „Daß Sie mit Marcuse diesbezüglich<br />

direkt in Verbindung treten, Herr Neumann, ist ja schon deshalb ausgeschlossen,<br />

weil Sie ja wohl auch mit ihm verfeindet sind.“<br />

Dieses „ja wohl auch“ ist eine Niedrigkeit. Ob ich zufällig mit ihm verfeindet<br />

bin – nein, er mit mir – weiß ich nicht genau. Wir sind im Gegenteil seit 25 Jahren<br />

befreundet, mit einer Unterbrechung von dreiundzwanzig, und was unser letztes<br />

Zusammentreffen vor 2 Jahren betrifft – ich schied von ihm als Freund! Ganz<br />

abgesehen davon, daß wir beide einer härteren Generation angehören, die es sich<br />

und einander noch schwer machte; von Fall zu Fall. Kein Enzenswalser, der damals<br />

in deinen Dreizeilen-Apodiktum einen Heißenkorff als den größten Rühmbüttel<br />

aller Seiten bezeichnet hätte, oder wie war das nur – und nicht einer unter ihnen<br />

von jener Wechselseitigen Hagelschaden-Versicherung, Assicurazione 47, die es<br />

bekanntlich gar nicht gibt.<br />

Wozu noch kommt: Lob ich Marcuse, während er mich lobt, so bleibt mein<br />

Lob wirkungslos, was ich verschmerzen könnte, aber auch sein Lob meines Buches<br />

bliebe wirkungslos, und das wäre aus sachlichen Gründen schade, bei so einem<br />

guten Buch. Lob’ ich ihn aber, während er mich tadelt – das würde ihm so passen!<br />

Woraus folgt, daß ich ihn zu tadeln habe, auf jeden Fall.<br />

Dem aber steht wieder in Wege, daß Marcuses Buch, in dem er den Begriff der<br />

Obszönität in der Luft zerfetzt, meinem andern Freund, dem Chefredakteur dieses<br />

Blattes, ein ungemein rotes Tuch sein muß: er ist ein frommer Mann – die Herzlichkeit<br />

unserer Freundschaft beruht darauf, daß er mir die schlimmen Wörter aus<br />

meinen Texten streicht. Und da sollte ich ihm nach dem Munde reden, indem ich<br />

Marcuse verreiße? Das wäre gelacht!<br />

Kurzum: all das ist zu kompliziert. Bleibt nur ein kühner Ausweg, zu dem ich<br />

bloß in verzweifelten Fällen Zuflucht nehme: Seien wir sachlich.<br />

Sachlich verhält es sich mit dem Buch von Marcuse so: Das Buch heißt<br />

Ludwig Marcuse: OBSZÖN, Geschichte einer Entrüstung (Paul List Verlag,<br />

München),<br />

und um über seine 400 Seiten angemessen zu berichten, brauchte man etwa 40.<br />

Die werden von anderen Leuten geschrieben werden, im Lauf der nächsten Monate<br />

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