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StudienVerlag - Oapen

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An Jean Rodolphe von Salis<br />

[Locarno], 14.8.1972<br />

Ms. o. U., ÖNB<br />

Lieber und verehrter Freund,<br />

Helga besteht darauf, den traditionellen bread and butter Brief selbst zu dichten – so<br />

bleibt mir nur, noch von mir aus hinzuzufügen, daß wir uns in Brunegg dank Ihrer<br />

und Ihrer Frau Gastfreundschaft überaus wohlgefühlt haben – ganz abgesehen von<br />

der Bewunderung Ihrer Burg und der großartigen Möbel und Bilder. Einen besonders<br />

starken Schlußeindruck hat mir Ihr Familienalbum gemacht – und damit bin<br />

ich auch schon bei dem folgenden:<br />

Ich habe mir auf der Heimreise und noch nachher Gedanken gemacht über<br />

die beste Art, in der ein Mann Ihrer Brillanz als Historiker dem Problem einer<br />

Autobiographie gerecht werden könnte,<br />

Mein Vorschlag ist dadurch von begrenztem Wert, daß ich all diese Dinge natürlich<br />

als „Schriftsteller“ sehe, mit all den Kniffen, die unsereiner für eine Aufgäbe<br />

dieser Art verwendet und die für einen Wissenschaftler wie Sie vielleicht nur teilweise<br />

akzeptabel sein werden.<br />

Wie ich es sehe, sollten Sie „erfinden“, daß ein 17- bis 20-jähriger J. R. v. S. nicht<br />

nur (wie es ja der Fall gewesen Ist) der Geschichte seiner Ahnen nachgegangen ist<br />

sondern sie damals auch aufgeschrieben hat – sie ist unpubliziert – und jetzt, 50<br />

Jahre später, beim Sichten Ihrer Familienpapiere, stoßen Sie (wieder einmal) auf<br />

dieses Manuskript und beschließen, es nicht umzuschreiben sondern zu publizieren,<br />

wie es damals geschrieben wurde, und es nur aus Ihrer heutigen Sicht mit „Fußnoten“<br />

bzw. kleinen zurechtrückenden Kommentaren zu versehen.<br />

Der junge Mann von damals war belastet von Vergangenheit und ambivalent<br />

sehr stolz auf sie – er hat geschrieben, um dieses unfrei machende Gefühl loszuwerden,<br />

es war für ihn ein psychologisch notwendiger Akt, aus dem er schließlich<br />

befreit in sein nächstes Lebensstadium gegangen ist. Er steht der Glorie der Ahnen<br />

positiv gegenüber und spricht natürlich all das aus, was auszusprechen der heutige<br />

J. R. v. S. Hemmungen hätte – und die „Fußnoten“ dieses Heutigen sind dementsprechend<br />

„tuning down“. –<br />

Alternativ wäre zu erwägen, ob der Zwanzigjährige seinen Bericht nicht etwa am<br />

besten in Form eines Tagebuchs brächte – Einzeletappen seiner Suche mit Details<br />

seines Privatlebens von Tag zu Tage verschmelzend – so daß am Ende dieses ersten<br />

Teils des geplanten Gesamtwerkes der junge Mann die Geschichte seiner Ahnen<br />

und die Gestalten seiner damals mitlebenden Familienmitglieder up to date 1920/22<br />

präsentiert wären.<br />

Der 2. Teil des Werkes setzte voraus, daß der nunmehr um 50 Jahre älter Gewordene<br />

a propos seiner Befassung mit dem Jugendwerk zu der Erkenntnis gekommen<br />

ist, daß es nun eigentlich für ihn an der Zeit ist, die Geschichte von „J. R. v. S. 1920“<br />

weiterzuführen zu „J. R. v. S. 1970“ und gleichzeitig die Geschichte derjenigen, die<br />

1920 lebende Zeitgenossen waren, ebenfalls bis zur Gegenwart fortzusetzen. Das<br />

wäre dann also die unverstellte Stimme des reifen Mannes.<br />

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