09.01.2014 Aufrufe

StudienVerlag - Oapen

StudienVerlag - Oapen

StudienVerlag - Oapen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

An Marcel Reich-Ranicki<br />

Locarno, 7.5.1961<br />

Ms. o. U., ÖNB<br />

Mein lieber Reich-Ranicki,<br />

man hat mir Ihren Brief (und Leonhardts Brief) und Ihre Kritik „taktvollerweise“<br />

nicht nach London nachgeschickt, ich finde all das erst heute, und antworte sofort,<br />

um Sie wegen meines Schweigens nicht im Unsicheren zu lassen.<br />

Das ist ein guter Brief, eine gute Gesinnung, und eine gute Kritik. Auch gute<br />

Kritiken können natürlich falsche Kritiken sein, und die Ihre ist falsch – aus einem<br />

sachlichen und aus einem persönlichen Grund.<br />

Sachlich; weil Sie auf ein leichtes, heiter-melancholisches als Scherz und „Nebending“<br />

gemeintes und innerhalb dieser Grenzen, glaube ich, glücklich gelungenes<br />

kleines Buch mit der schweren Kanone schießen – völlig (ob aus einem Mangel<br />

an letzter Sprachvertrautheit oder aus einem beinahe erschreckenden Mangel an<br />

Humor, ist schwer zu sagen) vorübergehen an der einen und eigentlichen Leistung,<br />

die dieser Kleinigkeit vielleicht einige literarische Dauer geben wird: eben dem, was<br />

hier mit der Sprache angestellt worden ist, und was sehr viel mindere Kritiker als<br />

Sie erkannt haben – nur nicht Sie und Sieburg.<br />

Und persönlich: Sie sind mir gegenüber befangen, weil Sie mir zugetan sind. Sie<br />

sind invertiert korrupt. Sie sind so unsachlich, wie Sie sich sachlich vorkommen.<br />

Es ist das eine vertrackte Form der Eitelkeit. Ein mir sehr nahestehender Autor<br />

nannte es einmal (in ‚An den Wassern von Babylon‘) die „Wollust der Objektivität“.<br />

Daß ich Ihnen danach nicht böse sein kann sondern erst recht gut sein muß,<br />

versteht sich von selbst. Und das, obgleich Sie mir einen sehr schweren Schaden<br />

tun – nicht literarisch (denn ich glaube tatsächlich an die fast ausschließliche Wichtigkeit<br />

des Umfangs einer Kritik), sondern zumitten eines schweren und kostspieligen<br />

Prozesses. Nun, daran haben Sie in Ihrer Wollust nicht denken können, und<br />

ich will es nehmen, wie man es hinnimmt, wenn einem bei einer Jagd auf ganz<br />

Andere und Anderes der Freund und Nebenmann zufällig-unerfahrenerweise in<br />

die Waden schießt.<br />

Das heißt nicht, daß ich Sie so leichten Kaufes davonkommen lassen will. Es<br />

kann sein, daß ich Sie bei dem Prozeß als Zeugen laden werde – damit Sie noch<br />

ausführlicher gegen mich aussagen können. Und ich schlage Leonhardt (über den<br />

dieser Brief Sie erreicht) heute vor, Ihnen nun erst recht mein anderes Buch, das in<br />

dieser Woche erscheint, zur Kritik zu geben.<br />

Daß es, so oder so, bei der Einladung nach Locarno bleibt, versteht sich von selbst.<br />

RN reagiert auf eine Rezension von Reich-Ranicki: „Nitribitt der Jahrhundertwende:<br />

Der Schatten ihres großen Bruders Felix fällt über Olympia de Croulle“ (in: Die Zeit,<br />

28.4.1961).<br />

Rudolf Walter Leonhardt ist Kulturredakteur der „Zeit“.<br />

744

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!