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StudienVerlag - Oapen

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An Sándor Török (Magyar Radio Budapest)<br />

o. O., 17.5.1948<br />

Ms. o. U., ÖNB<br />

Sehr geehrter Herr Török,<br />

diese Begriffsverwirrung existiert selbstverständlich. Sie ist ein künstliches Produkt.<br />

Der Mensch ist friedlich – besonders wenn er kriegsmüde ist; er ist bona fide; und er<br />

ist schon deshalb nicht primär „begriffsverwirrt“ weil er keine eigenen Begriffe hat,<br />

er weiß nichts von Politik und sie interessiert ihn nicht. Hier setzt unsere Tragödie<br />

ein: eine Ueberwertung [sic] des Nations- und des Staatsbegriffes. Sie ist eine Erbschaft<br />

des Faschismus. Wir sind Sklaven des von uns selbst erfundenen Götzen – er<br />

indoktriniert die breite, nicht selbständig denkende Masse der Menschen (die Nazis<br />

nannten das „gleichschalten“) und gibt ihnen ein regionäres [sic] Gefühl des Besserwissens.<br />

des im Rechte seins, ein Monopol auf ethische Werte, die der Verblendete<br />

jenseits der (geographischen, politischen oder ideologischen) Landesgrenze nicht<br />

besitzt. Dieser Prozess der Indoktrination wird in autoritären und in demokratischen<br />

Staaten mit verschiedenen Mitteln durchgeführt, aber er ist da wie dort wirksam.<br />

Es gibt keine Menschengruppe in der Welt, und mag sie noch so friedliebend und<br />

redlich sein, die man mit den bestehenden und täglich angewandten Mitteln der<br />

Indoktrination nicht binnen weniger Wochen überzeugen könnte, erstens dass sie<br />

recht hat, zweitens dass nur sie recht hat, und drittens dass sie eben deshalb einer<br />

andern Menschengruppe die Schädel einschlagen muss. Um auf Ihre erste Frage<br />

zurückzukommen: Wir stehen inmitten eines solchen Indoktrinationsprozesses<br />

von West und Ost. Dieser Prozess ist heute nochnicht sehr weit vorgeschritten; aber<br />

das garantiert in keiner Weise – allen offiziellen Optimisten zum Trotz – dass die<br />

Indoktrinatoren hier oder dort nicht etwa in drei Jahren oder in drei Monaten oder<br />

übermorgen beschließen, das an sich kinderleichte Verfahren zu beschleunigen.<br />

Damit ist Ihre zweite Frage auch schon implicite beantwortet. Die selbständig<br />

Denkenden haben die Pflicht – und es ist eine zutiefst patriotische Pflicht – das Spiel<br />

der Politiker ihres Landes nicht mitzuspielen, der Indoktrination nicht zum Opfer<br />

zu fallen, an keinen Indoktrinationsakten mitzuwirken – in anderen Worten: sich<br />

nicht dumm machen zu lassen, ihren klaren Kopf zu bewahren, „to see the other<br />

fellow’s case“, Vernunft zu predigen, im eigenen Lande internationale Vernunft.<br />

Die selbständig Denkenden sind die letzte Hoffnung einer furchtbar gefährdeten<br />

Menschheit; sie sind der letzte internationale Senat; das gibt ihnen das Recht zur<br />

Unpopularität und die Pflicht zur Zivilcourage – die Pflicht, lieber als Märtyrer zu<br />

fallen als sich zu verkaufen.<br />

Ihr<br />

Robert Neumann<br />

Dieser Brief ist eine Antwort auf eine Rundfrage mit „folgenden konkreten Fragen“<br />

(vgl. Török an RN, 27.4.1948, ÖNB):<br />

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