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Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion – Konzeption ...

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166 KULTURELLE BILDUNG UND BILDUNGSREFORM<br />

Gerade im Zuge <strong>der</strong> Rezeption <strong>der</strong> Neurowissenschaften tauchen alte Probleme aus <strong>der</strong><br />

Anfangsphase <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wie<strong>der</strong> auf und wollen neu geklärt werden. Dabei werden oft <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er polarisierenden („digitalen“) Denkweise zwei Positionen o<strong>der</strong> Gegebenheiten gegenüber<br />

gestellt: Körper vs. Geist, Vernunft vs. Emotion, das Individuum vs. das Soziale, genetische<br />

Mitgift vs. Milieu. Insbeson<strong>der</strong>e werden Grundfiguren des pädagogischen, aber auch<br />

des neuzeitlichen philosophischen Denkens <strong>in</strong> Frage gestellt wie etwa die Autonomie und<br />

Willensfreiheit des E<strong>in</strong>zelnen. Es streiten immer wie<strong>der</strong> verschiedene Wissenschaften (und<br />

Künste!) darum, wer das Deutungsrecht über das Leben und das Schicksal des Menschen<br />

hat (Fuchs 2004, Das Interesse).<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergrund dieser immer wie<strong>der</strong> auftretenden Streitigkeiten über die Prioritäten<br />

unter den Weltzugangsweisen ist die „Ganzheitlichkeit“ <strong>der</strong> Philosophie <strong>der</strong> symbolischen<br />

Formen von Ernst Cassirer auch deshalb bemerkenswert, weil sie mit ihrem Katalog symbolischer<br />

Formen (Sprache, Mythos, Wissenschaft, Technik, Politik/Staat, Religion, Wirtschaft,<br />

Kunst) e<strong>in</strong>en Rahmen für e<strong>in</strong>en <strong>Bildung</strong>s-„Kanon“ formuliert (denn all dies braucht<br />

<strong>der</strong> Mensch für e<strong>in</strong> umfassendes Weltverhältnis) und zugleich die pr<strong>in</strong>zipielle Gleichberechtigung<br />

<strong>der</strong> verschiedenen Weltzugangsweisen belegt (Abb. 3 siehe rechts).<br />

Der Mensch, <strong>der</strong> sich diese symbolischen Formen aneignet, ist nicht nur e<strong>in</strong> denkendes<br />

o<strong>der</strong> handelndes Wesen, er steht vielmehr mit all se<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nen und Fähigkeiten mitten im<br />

Leben (Abb. 4 auf Seite 168).<br />

Diese Skizze (e<strong>in</strong>e ausführlichere Darstellung f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> Fuchs 1999) beansprucht nicht<br />

nur ke<strong>in</strong>e solitäre Orig<strong>in</strong>alität, son<strong>der</strong>n ordnet sich vielmehr bewusst e<strong>in</strong> <strong>–</strong> im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

Suche nach Anschlussfähigkeit <strong>–</strong> <strong>in</strong> vergleichbare Überlegungen an<strong>der</strong>er Autoren.<br />

Ich will hier nur auf e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> wenigen aktuellen systematischen Versuche e<strong>in</strong>er Grundlegung<br />

<strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>en Pädagogik von Dietrich Benner (1987) h<strong>in</strong>weisen. In se<strong>in</strong>em „praxeologischen“<br />

Ansatz identifiziert Benner sechs „Grundphänomene menschlicher Existenz“<br />

(S. 20 ff.): Arbeit zur Schaffung e<strong>in</strong>er Lebensgrundlage, Normen und Regeln des Zusammense<strong>in</strong>s<br />

(Ethik), Entwurf und Gestaltung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Zukunft (Politik), Transzendenz<br />

<strong>der</strong> Gegenwart <strong>in</strong> ästhetischen Darstellungen (Kunst) und Konfrontation mit dem<br />

Problem <strong>der</strong> Endlichkeit (Religion). Als sechstes Phänomen nennt er Erziehung aufgrund<br />

<strong>der</strong> Tatsache, dass <strong>der</strong> Mensch im Generationenverhältnis steht. Diese existentiellen Grundphänomene<br />

s<strong>in</strong>d zwar zeitlich übergreifend, spezifizieren sich aber jeweils historisch-konkret<br />

und werden als solche erst bewusst (und bewusst reflektiert), nachdem <strong>der</strong> Mensch<br />

se<strong>in</strong>e Geschichtlichkeit erfahren und sich se<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>barkeit bewusst geworden ist (S.21).<br />

Wichtig ist <strong>in</strong> diesem „praxeologischen Ansatz“, die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Vernunft gegen e<strong>in</strong>e Zersplitterung<br />

<strong>in</strong> ökonomische, pädagogische, sittliche etc. Rationalität zu verteidigen (siehe<br />

hierzu auch Welsch 1996). Man sieht, dass durchaus unterschiedliche philosophische Referenzsysteme<br />

zu durchaus vergleichbaren Ansätzen führen. Systematisch folgert Benner aus<br />

dieser anthropologischen Grundlage se<strong>in</strong>e „konstitutiven“ und „regulativen Pr<strong>in</strong>zipien“<br />

pädagogischen Handelns: Bildsamkeit als Bestimmtse<strong>in</strong> des Menschen zu produktiver Freiheit,<br />

Geschichtlichkeit und Sprache; Auffor<strong>der</strong>ung zur Selbsttätigkeit; Überführung gesellschaftlicher<br />

Determ<strong>in</strong>ation <strong>in</strong> pädagogische Determ<strong>in</strong>ation; nicht-hierarchische Ordnung<br />

<strong>der</strong> menschlichen Gesamtpraxis.<br />

Nach diesem knappen Blick auf die Naturgeschichte <strong>der</strong> Menschheit will ich mich nunmehr<br />

auf diejenige Phase <strong>in</strong> <strong>der</strong> Entwicklung des Menschen konzentrieren, an <strong>der</strong>en Bewältigung<br />

wir uns bis heute abarbeiten, <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Damit wird zugleich die Entscheidung getroffen,<br />

dass zwar <strong>in</strong> allen Kulturen <strong>–</strong> und auch <strong>in</strong> unserer <strong>–</strong> Pädagogik stattf<strong>in</strong>det und über

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