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Kulturelle Bildung in der Bildungsreformdiskussion – Konzeption ...

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180 KULTURELLE BILDUNG UND BILDUNGSREFORM<br />

ken des Lebens (Angst, Schmerz, Hoffnung), die Verän<strong>der</strong>ungen gesellschaftlich vorhandener<br />

und zugänglicher kognitiver und emotionaler Strategien: all dies lässt sich im H<strong>in</strong>blick<br />

auf bestimmte Epochen untersuchen.<br />

Was gesamtgesellschaftlich „Säkularisierung“ heißt, bedeutet für den E<strong>in</strong>zelnen, dass es<br />

ihm immer weniger möglich ist, Trost und Orientierung bei dem Priester zu bekommen.<br />

E<strong>in</strong>e Dom<strong>in</strong>anz von Rechenhaftigkeit als Denkform lässt private Beziehungen an<strong>der</strong>s aussehen<br />

als e<strong>in</strong> Beziehungsdenken <strong>in</strong> Kategorien von Liebe und Sorge. Nicht zuletzt führt<br />

e<strong>in</strong>e erzwungene Arbeitslosigkeit o<strong>der</strong> die totale Umwertung bisheriger Lebensvorstellungen<br />

(etwa im Zuge <strong>der</strong> deutschen E<strong>in</strong>igung) zu gravierenden Problemen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Lebensbewältigung <strong>der</strong> betroffenen Menschen. Es entsteht hierbei e<strong>in</strong> kompliziertes<br />

Beziehungsgeflecht zwischen <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen und konkreten Lebensgestaltung und den<br />

gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Verarbeitungsformen. Auch bei dieser Frage nach<br />

<strong>der</strong> Positionierung des e<strong>in</strong>zelnen Menschen <strong>in</strong> sozialen Gruppen gibt es e<strong>in</strong>e ganze Reihe<br />

möglicher wissenschaftlicher Zugänge (Abb. 9 rechts). Konzepte wie das des „Habitus“ von<br />

Bourdieu helfen bei <strong>der</strong> Untersuchung dieser Vermittlung von Individuum und Gesellschaft<br />

weiter (Abb. 10 auf Seite 182).<br />

Der aktuelle Ansatz e<strong>in</strong>er Mentalitätsgeschichte (bzw. <strong>der</strong> historischen Wissenssoziologie) klärt<br />

hierbei über das Zustandekommen <strong>der</strong> psychischen B<strong>in</strong>nenstruktur des Menschen auf. Ich<br />

selbst (Fuchs 1984) habe mir vor Jahren die Frage gestellt, wie es zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Neuzeit zu<br />

Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkweise hat kommen können<br />

und etwa die vulgär-materialistische Ansicht geprüft, alles Denken und Fühlen ließe sich<br />

unmittelbar auf die ökonomische Basis zurückführen (die Antwort war ne<strong>in</strong>!).<br />

Piagets ontogenetische Untersuchungen zur Genese kognitiver (und später auch moralischer)<br />

Strukturen wurden <strong>in</strong>zwischen sowohl im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>en Kulturvergleich als auch als<br />

Theorie des sozialen Wandels genutzt (Osterdiekhoff 1992).<br />

Max Webers berühmte Studien über die religiös-wertemäßigen Grundlagen unterschiedlicher<br />

Gesellschaft- und Wirtschaftssysteme (bzw. <strong>der</strong> ökonomisch-gesellschaftlichen Relevanz von<br />

Weltreligionen) haben dabei auf die psychischen Dispositionen h<strong>in</strong>gewiesen, die offenbar mit<br />

<strong>der</strong> Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft korrespondieren müssen, auch wenn offen<br />

bleiben muss, ob und wie das Se<strong>in</strong> das Bewusstse<strong>in</strong> (o<strong>der</strong> umgekehrt) bestimmt.<br />

Der Mensch ist also e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> vielfältige soziale Netzwerke. Die Abb. 11 (auf Seite<br />

183) und Abb. 12 (auf Seite 184) versuchen, dies darzustellen.<br />

Betrachten wir vor diesem H<strong>in</strong>tergrund das Buch „Geschichte des mo<strong>der</strong>nen Lebensstils“<br />

von U. Becher (1990). Becher ordnet ihre Untersuchung <strong>in</strong> den Kontext <strong>der</strong> Weberschen<br />

Analyse <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne e<strong>in</strong>, die <strong>der</strong>en dynamische Entwicklung, die Auflösung traditioneller<br />

Strukturen und die Versachlichung und Rationalisierung <strong>der</strong> sozialen Verhältnisse hervorhebt.<br />

Interessant ist hierbei e<strong>in</strong> Zitat aus e<strong>in</strong>em Kreis von Literaten, die bereits 1846 programmatisch<br />

formulierten:<br />

„Unsere Literatur soll ihrem Wesen, ihrem Gehalte nach e<strong>in</strong>e mo<strong>der</strong>ne se<strong>in</strong>; sie ist geboren<br />

aus e<strong>in</strong>er trotz allem Wi<strong>der</strong>streit täglich mehr an Boden gew<strong>in</strong>nenden Weltanschauung, die<br />

e<strong>in</strong> Ergebnis <strong>der</strong> deutschen idealistischen Philosophie, <strong>der</strong> siegreich die Geheimnisse <strong>der</strong><br />

Natur entschleiernden Naturwissenschaft und <strong>der</strong> alle Kräfte aufrüttelnden, die Materie<br />

umwandelnden, alle Kräfte überbrückenden, technischen Kulturarbeit ist. Diese Weltanschauung<br />

ist e<strong>in</strong>e humane, <strong>in</strong> re<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>ne des Wortes und sie macht sich geltend zunächst<br />

und vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neugestaltung <strong>der</strong> menschlichen Gesellschaft, wie sie unsere Zeit von<br />

verschiedenen Seiten her anbahnt.“ (Ebd., S. 17).

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