Festung Europa
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vom 12. 4. 1989 einen eigenen Grundrechtekatalog<br />
der Europäischen Gemeinschaften, dem allerdings<br />
nur eine politisch-deklaratorische Bedeutung zukam.<br />
Vor dem Hintergrund der grundrechtlichen<br />
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs<br />
(EuGH), die sich an den Standards der mitgliedstaatlichen<br />
Verfassungstraditionen und der �Europäischen<br />
Menschenrechtskonvention (EMRK) orientierte,<br />
fand seit Anfang der 1990er Jahre eine Debatte<br />
über die Effektivierung des Grundrechtsschutzes in<br />
<strong>Europa</strong> statt. Dabei spielten drei Ansätze eine Rolle:<br />
(1) die Fortführung der bisherigen Lösung durch den<br />
EuGH, nach welcher die flexible Anpassung des<br />
grundrechtlichen Schutzes der Unionsbürger an<br />
neue Herausforderungen allein dem EuGH obläge,<br />
wodurch dieser allerdings auch zum Schöpfer der<br />
Grundrechte würde; (2) der Beitritt der Gemeinschaft<br />
zur EMRK, der eine Änderung der Konvention<br />
erforderte, da ihr z. Zt. nur Einzelstaaten beitreten<br />
dürfen; (3) die Kodifizierung eines eigenen Grundrechtekatalogs<br />
der EU.<br />
Der zuletzt genannte Ansatz wurde vom Europäischen<br />
Rat aufgegriffen, der am 3./4. 6. 1999 in Köln<br />
beschloss, eine Charta der Europäischen Union entwerfen<br />
zu lassen. Diese Charta wurde von einer am<br />
15./16. 10. 1999 in Tampere (Finnland) einberufenen<br />
Kommission entworfen, die sich unter ihrem<br />
Vorsitzenden Roman Herzog als „Konvent“ benannte.<br />
Dieser setzte sich aus Regierungsvertretern und<br />
Parlamentariern der Mitgliedstaaten, Mitgliedern<br />
des Europäischen Parlaments sowie Vertretern der<br />
Präsidentschaft und der Kommission zusammen; als<br />
Beobachter nahmen Vertreter des EuGH und des <strong>Europa</strong>rates<br />
an den Beratungen teil. Der Auftrag des<br />
Konvents bestand in der „Kodifizierung des sittlichen<br />
Besitzstandes“ der Union; er sollte die im<br />
Unionsvertrag, in der EMRK und in der Sozialcharta<br />
sowie in den Entscheidungen des EuGH und des Europäischen<br />
Gerichtshofes für Menschenrechte verankertenRechtekompilieren.DerKonventnahmdarüber<br />
hinaus auch Grundrechte aus den Bereichen<br />
der Bioethik und der modernen Informationstechnologien<br />
in die Charta auf. Der Entstehungsprozess der<br />
Charta wurde durch mehrere hundert Stellungnahmen<br />
gesellschaftlicher Organisationen begleitet. In<br />
zwei Sondersitzungen wurden Vertreter der Bürgergesellschaft<br />
sowie die Repräsentanten der Beitrittsländer<br />
angehört. Am 10. 10. 2000 verabschiedete der<br />
Konvent die Charta der Grundrechte der Europäi-<br />
Grundrechtecharta<br />
schen Union fast einstimmig. Sie wurde am 7. 12.<br />
2000 vom Europäischen Rat in Nizza feierlich proklamiert<br />
und vom Ratspräsidenten, dem Kommissionspräsidenten<br />
und der Parlamentspräsidentin unterzeichnet.<br />
Der Text des �Verfassungsvertrags<br />
2004 für <strong>Europa</strong> verweist in Teil I auf die Prinzipien<br />
der Menschenwürde, Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
und inkorporiert in Teil II die Charta der<br />
Grundrechte der Union mit kleineren Modifikationen.<br />
2. Struktur und Inhalt der Charta: Die Charta besteht<br />
aus einer Präambel sowie sieben Kapiteln (Titeln),<br />
die überschrieben sind mit (1) Würde des Menschen,<br />
(2)Freiheiten,(3)Gleichheit,(4)Solidarität,(5)Bürgerrechte,<br />
(6) Justizielle Rechte und (7) Allgemeine<br />
Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung<br />
der Charta.<br />
In ihrem Anfang und als Grundlage der klassischen<br />
Schutz-, Abwehr- und Beteiligungsgrundrechte<br />
wird die Unantastbarkeit der Würde des Menschen<br />
betont; Art. II-61 VVE 2004 ist offenkundig Art. 1<br />
Abs. 1 GG nachgebildet. Dem ersten Kapitel sind<br />
weiterhin das Recht auf Leben, das Verbot der Todesstrafe,<br />
das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit<br />
und die Verbote der Folter und Erniedrigung,<br />
der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels<br />
zugeordnet. In den Artikel über das<br />
Recht auf Unversehrtheit sind Bestimmungen zur<br />
Beschränkung der Biomedizin integriert; sie verbieten<br />
das reproduktive Klonen von Menschen und den<br />
gewinnorientierten Handel mit Teilen des menschlichen<br />
Körpers. Das zweite Kapitel über die Freiheitsrechte<br />
(Art. II-66 – 79 VVE 2004) garantiert insbes.<br />
den Schutz des Privatlebens, der Wohnung und der<br />
Kommunikation, die Gedanken-, Gewissens- und<br />
Religionsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit,<br />
die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit,<br />
die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, das<br />
Recht auf Bildung und die Berufsfreiheit, die unternehmerische<br />
Freiheit und das Eigentumsrecht sowie<br />
das Asylrecht und das Verbot der Abschiebung oder<br />
AuslieferunginStaaten,wodasRisikoderFolterund<br />
der Todesstrafe besteht. Zu den innovatorischen Bestimmungen<br />
gehören der ausdrückliche Schutz des<br />
geistigen Eigentums, der Schutz von personenbezogenen<br />
Daten und das Recht auf Auskunft über die eigenen<br />
Daten. Das dritte Kapitel (Art. II-80 – 86 VVE<br />
2004) bestimmt den Grundsatz der Gleichheit vor<br />
dem Gesetz und der Gleichheit von Männern und<br />
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