Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Zweites ... - nubuk.com
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So schildern uns die Alten diese Nation; über ihre Herkunft läßt sich nur mutmaßen.<br />
Demselben Schoß entsprungen, aus dem auch die hellenischen, italischen<br />
und germanischen Völkerschaften hervorgingen, sind die Kelten ohne Zweifel gleich<br />
diesen aus dem östlichen Mutterland in Europa eingerückt, wo sie in frühester Zeit<br />
das Westmeer erreichten und in dem heutigen Frankreich ihre Hauptsitze begründeten<br />
4 , gegen Norden hin übersiedelnd auf die britannischen Inseln, gegen Süden die<br />
Pyrenäen überschreitend und mit den iberischen Völkerschaften um den Besitz der<br />
Halbinsel ringend. An den Alpen indes strömte ihre erste große Wanderung vorbei<br />
und erst von den westlichen Ländern aus begannen sie in kleineren Massen und<br />
in entgegengesetzter Richtung jene Züge, die sie über die Alpen und den Hämus,<br />
ja über den Bosporus führten und durch die sie der Schrecken der sämtlichen zivilisierten<br />
Nationen des Altertums geworden und durch manche Jahrhunderte geblieben<br />
sind, bis Caesars Siege und die von Augustus geordnete Grenzverteidigung<br />
ihre Macht für immer brachen.<br />
Die einheimische Wandersage, die hauptsächlich Livius uns erhalten hat, berichtet<br />
von diesen späteren rückläufigen Zügen folgendermaßen 5 . Die gallische<br />
Eidgenossenschaft, an deren Spitze damals wie noch zu Caesars Zeit der Gau der<br />
Biturigen (um Bourges) stand, habe unter dem König Ambiatus zwei große Heeresschwärme<br />
entsendet, geführt von den beiden Neffen des Königs, und es sei der<br />
4 Neuerdings ist von kundigen Sprachforschern behauptet worden, daß die Verwandtschaft der<br />
Kelten und der Italiker näher sei, als selbst die der letzteren und der Hellenen, das heißt, daß derjenige<br />
Ast des großen Baumes, von dem die west- und südeuropäischen Völkerschaften indogermanischen<br />
Stammes entsprungen sind, zunächst sich in Griechen und Italokelten und beträchtlich später die<br />
letzteren sich wieder in Italiker und Kelten gespalten hätten. Geographisch ist diese Aufstellung sehr<br />
annehmbar, und auch die geschichtlich vorliegenden Tatsachen lassen sich vielleicht damit ebenfalls<br />
in Einklang bringen da, was bisher als gräcoitalische Zivilisation angesehen worden ist, füglich gräcokeltoitalisch<br />
gewesen sein kann – wissen wir doch über die älteste keltische Kulturstufe in der Tat<br />
nichts. Die sprachliche Untersuchung scheint indes noch nicht so weit gediehen zu sein, daß ihre<br />
Ergebnisse in die älteste Völkergeschichte eingereiht werden dürften.<br />
5 Die Sage überliefern Livius (5, 34) und Iustin (24, 4) und auch Caesar (Gall. 6, 24) hat sie im<br />
Sinn gehabt. Die Verknüpfung indes der Wanderung des Bellovesus mit der Gründung von Massalia,<br />
wodurch jene chronologisch auf die Mitte des zweiten Jahrhunderts der Stadt bestimmt wird, gehört<br />
unzweifelhaft nicht der einheimischen, natürlich zeitlosen Sage an, sondern der späteren chronologisierenden<br />
Forschung und verdient keinen Glauben. Einzelne Einfälle und Einwanderungen mögen<br />
sehr früh stattgefunden haben; aber das gewaltige Umsichgreifen der Kelten in Norditalien kann<br />
nicht vor die Zeit des Sinkens der etruskischen Macht, das heißt nicht vor die zweite Hälfte des<br />
dritten Jahrhunderts der Stadt gesetzt werden.<br />
Ebenso ist, nach der einsichtigen Ausführung von Wickham und Cramer, nicht daran zu zweifeln,<br />
daß der Zug des Bellovesus wie der des Hannibal nicht über die Kottischen Alpen (Mont Genèvre)<br />
und durch das Gebiet der Tauriner, sondern über die Graischen (den Kleinen St. Bernhard) und<br />
durch das der Salasser ging; den Namen des Berges gibt Livius wohl nicht nach der Sage, sondern<br />
nach seiner Vermutung an. Ob die italischen Boier aufgrund einer echten Sagenreminiszenz oder nur<br />
aufgrund eines angenommenen Zusammenhangs mit den nördlich von der Donau wohnhaften Boiern<br />
durch den östlichen Paß der Pöninischen Alpen geführt werden, muß dahingestellt bleiben.<br />
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