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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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101 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

Es gibt starke Widerstände und breite Zustimmung zu dieser Entwicklung. Der Aussage „Ich bin<br />

für die Entwicklung einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland (verschiedene Lebensformen,<br />

Religionen usw.)“ stimmten 1999 immerhin 55 % der Befragten in einer repräsentativen Erhebung von<br />

3700 Personen in den alten und den neuen Bundesländern zu. 6 Vielleicht würde die Zustimmung heute,<br />

unter dem Eindruck der schrecklichen Attentate durch fanatische Islamisten, geringer ausfallen.<br />

Außer den oft emotionalisierten und einseitigen Argumenten der politischen Auseinandersetzung<br />

gibt es die Ebene der sozialwissenschaftlichen Forschung über die realen Verhältnisse. Welche Unterschiede<br />

bestehen überhaupt zwischen den verschiedenen Kulturen? Inwieweit verändern sich <strong>Menschenbilder</strong><br />

unter dem Einfluss anderer Kulturen? Wie erlebt der Einzelne oder z.B. eine Familie mit<br />

unterschiedlicher ethnischer Herkunft die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit, der kulturellen<br />

Identität. Auf eigene Weise erlebt ein Tourist oder ein lange im Ausland Lebender kulturelle Unterschiede:<br />

vom unmittelbaren „Kulturschock“ in einer fremden Welt bis zur äußeren und inneren Angleichung.<br />

Der Kulturschock beim Reisen in fremde Länder hat viele Facetten, je nachdem, ob es um die<br />

materielle Not oder um fremde Lebensformen geht. Es gibt die Erschütterung und Entrüstung über das<br />

Elend, die Verwunderung und das Erschrecken über fremde Sitten – allgemein eine tiefe Verunsicherung<br />

der eigenen Selbstverständlichkeiten. Der Kulturschock kann ein Anstoß sein, nachdenklich zu<br />

werden und den eigenen Standpunkt zu relativieren. Zu einem zweiten Kulturschock kann es bei der<br />

Rückkehr kommen, wenn der westliche, oft unbedachte Luxus, und die vielen Selbstverständlichkeiten<br />

des Lebensstandards, des öffentlichen Lebens und der Massenmedien distanzierter beobachtet werden.<br />

In die optimistischen Zukunftsvisionen eines multikulturellen und universalen Bewusstseins haben<br />

sich inzwischen viele kritische Stimmen gemischt. Die Möglichkeit weltumspannender Gemeinschaft<br />

und die emphatische Sicht des Weltbürgertums werden sehr viel pessimistischer beurteilt. „Multi-<br />

Kulti“ sei eine gescheiterte Utopie, heißt es sogar. Eine relativ kleine Anzahl von Extremisten und<br />

deren Verbrechen reichten aus, um einen Zusammenstoß der Kulturen zu prophezeien und die Risiken<br />

eines wachsenden Ethnozentrismus und Rassismus, die Wirkung von Vorurteilen und sozialen Diskriminierungen<br />

drastisch auszumalen.<br />

Bisher hat die Staatengemeinschaft trotz vieler Bemühungen der UNO noch nicht den allgemeinen<br />

Frieden zu sichern vermocht. Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es ca. 150 größere und kleinere<br />

Kriege. Auch große westliche Demokratien haben durch Angriffskriege, kriegerische Interventionen<br />

und Kriegsverbrechen wiederholt und massiv gegen die Prinzipien der UN-Charta verstoßen.<br />

Welche Alternativen gibt es zur kosmopolitischen Einstellung einschließlich der planetaren ökologischen<br />

Sicht und der Verantwortung der wohlhabenden gegenüber den armen Völkern? Trotz der<br />

verbreiteten Ernüchterung oder der Enttäuschung über zu geringe Fortschritte bewerten viele den Weg<br />

zum „universalen Menschen“ positiv, weil er eine Erweiterung der eigenen Möglichkeiten und der<br />

Mitmenschlichkeit bietet. Multikulturell leben lernen wird einen generationenlangen Prozess erfordern.<br />

Die psychologischen Bedingungen dieses neuen Denkens und Handelns können heute besser<br />

skizziert werden: die Schritte des Nachdenkens über die eigene Kultur und die Beziehungen zu fremden<br />

Kulturen auf dem Wege zu einem universalen Menschenbild. 7 Angesichts der Krawalle Jugendlicher<br />

und der Disziplin- und Gewalt-Probleme in Großstadtschulen wurden einzelne Vorwürfe und<br />

Ursachenzuschreibungen vorgebracht, das Elend der Multi-Kulti-Hoffnungen sei nun offenkundig.<br />

Bedächtigere Stimmen wiesen darauf hin, dass wahrscheinlich viel eher ein unzureichender Deutschunterricht,<br />

psychologisch ungenügend ausgebildete Lehrer, Jugendarbeitslosigkeit und Diskriminierungen<br />

verschiedener Art bedacht und geändert werden müssten. Die betroffenen Schüler, Eltern und<br />

Lehrer werden wahrscheinlich von keiner der beiden Seiten beeindruckt sein: weder vom ethnischen<br />

Nationalismus des konservativen Lagers mit der vagen Vorstellung einer deutschen Leitkultur, noch<br />

vom Versäumnis der sozial-liberalen Seite, diese unerlässlichen Reformen markant zu publizieren und<br />

vorrangig umzusetzen.<br />

Wenn das Nebeneinander von Religionen und Kulturen als Multi-Kulti eher pessimistisch oder<br />

als riskant eingeschätzt wird, mag dabei die Erinnerung an die vielen Glaubens- und Konfessionskriege<br />

in Europa mitschwingen. Es spricht manches dafür, dass sich die drei monotheistischen Religionen<br />

mit ihrem jeweiligen Ausschließlichkeitsanspruch besonders schwer tun, eine interreligiöse Toleranz<br />

zu leben. In den Medien wird kaum daran erinnert, dass es in den polytheistischen Stadtstaaten des

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