Menschenbilder - Jochen Fahrenberg
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226 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />
Reflexion bedeutet besonders gründliches und differenzierendes Betrachten und Abwägen von<br />
Erlebnissen und Vorstellungen: als Selbst-Reflexion mit der Tendenz der Innenschau und Selbst-<br />
Spiegelung. Diese gedankliche Reflexion auch aus der Sicht einer anderen Person vorzunehmen, ist<br />
nicht selbstverständlich. Sich in andere hineinzuversetzen und zu fragen, welches Wissen und welche<br />
Bedeutungen wichtig sind, ist eine besondere kognitive Leistung. Die Fähigkeit und die Bereitschaft<br />
zum Perspektiven-Wechsel wurden bereits in verschiedenen Zusammenhängen hervorgehoben. Diese<br />
Fähigkeit ist nicht mit der formalen Intelligenz oder dem Bildungswissen gleichzusetzen, denn offensichtlich<br />
fällt es vielen Menschen außerordentlich schwer, sich zumindest näherungsweise in die Situation<br />
und in die Auffassungen eines anderen Menschen hineinzuversetzen. Die Perspektive wechseln<br />
zu können, ist eine Grundvoraussetzung der beiden menschlichen Begründungen der Ethik: rational<br />
nach der Goldenen Regel oder aus Mitleid zu handeln.<br />
Toleranz der Mehrdeutigkeit<br />
Für die weit verbreitete Einstellung, mehrdeutige Verhältnisse abzuwehren, hatte die Psychologin Else<br />
Frenkel-Brunswik den Begriff „Intoleranz der Ambiguität“, d.h. Abwehr von Mehrdeutigkeit, geprägt.<br />
Diese Tendenz ist eng verwandt mit der negativen Einstellung gegenüber Andersartigem, mit Autoritarismus<br />
und Ethnozentrismus. Aus psychologischer Sicht sind einige Merkmale oder Voraussetzungen<br />
für das Gelingen von transkulturellen und interreligiösen Lernprozessen zu beschreiben: die Bereitschaft,<br />
sich neuen Erfahrungen auszusetzen, Unsicherheiten hinzunehmen und insgesamt nicht aus<br />
Vorurteilen oder Ressentiments zu leben. (Kapitel 13). Offenheit, Vielfalt, Unentschiedenheit in verschiedenen<br />
Lebensbereichen nicht nur hinnehmen, sondern auch schätzen zu können, ist eine ungewöhnliche<br />
Eigenschaft. Vor allem den religiösen Menschen wird es vielfach sehr schwer fallen, den<br />
Pluralismus zu akzeptieren, denn er wird zwangsläufig die eigenen Überzeugungen und deren Wahrheitsanspruch<br />
relativieren. Deswegen ist es fraglich, ob diese Toleranz auch hinsichtlich der letzten<br />
Wahrheiten ernsthaft möglich ist. So gewiss diese bisher auch sein mögen, sie würden in Frage gestellt,<br />
falls sie anderen Überzeugungen widersprechen.<br />
Welchen Zweck kann ein interreligiöses Gespräch zwischen den monotheistischen Religionen<br />
haben, wenn nicht drei gleichberechtigte Wege zum selben, einen, einzigen Gott akzeptiert werden?<br />
Ein philosophischer Beobachter sprach von der notwendigen, symmetrischen Abrüstung von Wahrheitsansprüchen.<br />
Mit totalitären Alleinvertretungsansprüchen wird ein Dialog aussichtslos bleiben.<br />
Zensur und Selbstzensur<br />
Wer über Zensur nachgedacht hat, wird sich wahrscheinlich fragen, inwieweit diese Form der Disziplinierung<br />
von Wissen heute untergründig oder in anderen Formen fortlebt. Gemeint sind nicht die Zensurbehörden<br />
der Vergangenheit oder die Indizierung jugendgefährdender oder antisemitischer Literatur,<br />
sondern moderne Formen der Unterdrückung von Informationen bzw. die bereitwillige Anpassung<br />
an die erwünschte Meinung als Selbstzensur. Zu den Mitteln gehören bestimmte Schlagworte, die<br />
Verschleierung von Tatsachen, die Diskreditierung anderer Auffassungen, die Orientierung an dem,<br />
was erwartet und gefällig ist, d.h. der „political correctness“ in Gesellschaft, Kirche, Universität, Verband,<br />
Firma. Bei freiwilliger Selbstzensur werden schwierige Themen wegen möglicher Konsequenzen<br />
von vornherein vermieden.<br />
Wie solche Defizite durch die spezielle Selektion von Nachrichten, durch tendenziöse Akzentuierung<br />
der Überschriften und durch freie Mischung von eigentlicher Nachricht und persönlicher Meinung<br />
des Journalisten entstehen, hatte schon Hans Magnus Enzensberger in den 1960er Jahren mit<br />
seiner ideologiekritischen Analyse von Texten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung demonstriert.<br />
Solche inhaltsanalytischen Untersuchungen mit der Absicht der Aufklärung über Parteilichkeit und<br />
Selbstzensur der Massenmedien sind jedoch, trotz verbesserter Methodik, verhältnismäßig selten geblieben<br />
statt eine systematische Begleitung zu sein. 9<br />
Pädagogische Perspektiven<br />
„Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so<br />
jeder anderen voraus, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht<br />
verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. „ (Adorno, 1966). 10