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Menschenbilder - Jochen Fahrenberg

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195 <strong>Menschenbilder</strong>: Psychologische, biologische, interkulturelle und religiöse Ansichten ( J. <strong>Fahrenberg</strong>, 2007)<br />

Gewalt<br />

In der Bibel erfährt der unbefangene Leser zweifellos ein hohes Gewalt- und Angstpotenzial in einem<br />

unüberwindlich erscheinenden Kontrast zur „frohen Botschaft der Liebe“. Das erste und offenbar<br />

wichtigste der Zehn Gebote lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben<br />

neben mir.“ – Der alttestamentarische Gott ist eifersüchtig auf die Götter neben ihm. Vor allem für die<br />

monotheistischen Religionen wird diskutiert, ob der absolute Wahrheitsanspruch des einzigen Gottes<br />

und religiös motivierte Untaten strukturell zusammenhängen könnten.<br />

Der Ägyptologe Jan Assmann erblickt in der im Buch Moses gegebenen Unterscheidung von<br />

wahrer und falscher Religion Anklänge an die religiöse Reformbewegung des Pharao Echnaton (ca.<br />

1350 v.u.Z.). Dessen radikaler Monotheismus habe den kosmischen Frieden der antiken ägyptischen<br />

Welt gestört. Der mosaische Monotheismus schafft ebenfalls eine gefährliche Trennung zwischen dem<br />

wahrem Gott und den falschen Göttern, eine Spaltung, die aus anderem Blickwinkel als Überwindung<br />

der archaischen Urreligion gedeutet werden kann. Die Ausgrenzung kann auf beiden Seiten Hass erzeugen.<br />

Unter welchen Bedingungen die Anbetung des einzigen Gottes in Genozid umschlagen kann,<br />

bezeugt der biblische Bericht über den Makkabäer-Aufstand. Assmann sieht hier den vielleicht ersten<br />

überlieferten Religionskrieg, der nicht nur religiös motiviert, sondern auch theologisch gerechtfertigt<br />

würde. 12<br />

Dieser Interpretation kann entgegengehalten werden: die Präsenz von Gewalt in der Bibel spiegelt<br />

den Charakter der Menschen, und die Geschichten enthalten auch Lösungswege. Obwohl mit Opfertod<br />

und Blutopfer äußerliche Merkmale der archaischen Religionen fortbestehen, wird ein neues<br />

Menschenbild gelehrt, diese Gewalt zu überwinden und unsere Freiheit zu erweitern. Wenn etwa der<br />

Religionsphilosoph René Girard auf dieser Linie argumentiert, bleibt jedoch die religionspsychologische<br />

Frage unbeantwortet, wie diese Sicht mit der apokalyptischen Erwartung der satanischen Mächte<br />

oder mit der möglichen ewigen Verdammnis zusammenpasst.<br />

Selbst wenn die moralisch anstößigen Inhalte der Bibel als tiefenpsychologische Projektion oder<br />

sogar als aggressionspsychologisch wichtige, phantasierte Überwindung gedeutet werden, bleibt dies<br />

für eine Heilige Schrift auffällig. Was würde ein Vergleich mit den zentralen Schriften indischer und<br />

chinesischer Religionen, mit polytheistischen und atheistischen Lehren aufzeigen können? Ob dieses<br />

Gewaltpotenzial und der Monotheismus strukturell und sozialpsychologisch mit der aggressiven Expansion<br />

des christlichen Abendlandes in alle Kulturen und Kontinente zusammenhängen, bleibt ebenfalls<br />

eine historische Spekulation. War die „Kriegstheologie“, von den heiligen Kreuzzügen bis zum<br />

Zweiten Weltkrieg und dem Irak-Krieg, eine fatale Ausdrucksform oder nur ein Missbrauch der christlichen<br />

Lehre, ähnlich wie bei heutigen islamischen Extremisten? Müsste aus dieser Sicht der Islam als<br />

reinster Monotheismus die größten Probleme haben? Der katholische Historiker und Politologe Hans<br />

Maier bestreitet einen systematischen Zusammenhang von Gewalt und Religion, aber er räumt ein,<br />

dass Kreuzzugsbegeisterung und Dschihadismus eine Symbiose mit einer tödlichen Zerstörungskraft<br />

eingehen können. – Oder schließt das monotheistische Verständnis des absoluten Gottes und strafenden<br />

Richters doch Aspekte der Gewaltsamkeit ein? Die Fragen nach einer strukturellen Gewalt aufgrund<br />

der Verabsolutierung religiöser Glaubens- und Wahrheitsansprüche sind wieder aktuell, sollten<br />

aber keine undifferenzierten Urteile provozieren. 13<br />

Müssen nicht – außer der oft mehrdeutigen Übersetzung und dem historischen Kontext – die Absichten<br />

der Berichte, bestimmte Zitate mit ihren Anspielungen, bildliche Darstellungsformen, Gleichnisse<br />

und Symbole, und vieles andere berücksichtigt werden? Dies alles ist zu bedenken, wenn kritische<br />

Bibelinterpretationen unternommen werden. Ebenso deutlich muss bleiben, dass die kanonischen<br />

Schriften des AT und des NT für die Gläubigen die Offenbarung Gottes bedeuten. Deshalb kann es<br />

grundsätzlich nicht in das Belieben einzelner Pfarrer gestellt sein, diese Texte „bildlich“ frei zu interpretieren,<br />

tiefenpsychologisch oder narrativ umzudeuten, anstößige Stellen zu entschärfen, mit den<br />

heutigen Vorstellungen zu harmonisieren oder als überholt anzusehen. Es handelt sich ja nicht um<br />

Belletristik oder andere Literatur, sondern um Bestimmungen des Menschen und um den Sinn des<br />

Daseins, um Ankündigungen, Versprechen, Gebote des Schöpfergottes, um Gotteswort, nicht um<br />

Menschenwort (Kardinal Bea: „In der Bibel steht nur das, was Gott will, und so wie es Gott will.“) –<br />

Die neuzeitliche wissenschaftliche Bibelkritik hat allerdings unzählige inhaltliche Kompositionen,<br />

Zusammenstellungen, Veränderungen und Textvarianten des Neuen Testaments herausgearbeitet, so<br />

dass höchstens durch eine Konvention festzulegen ist, welcher als der theologisch gültige Text ange-

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